Automobile DNS, Zur Mythologie des Automobils in der Kontrollgesellschaft

Werbeanzeige von Volkswagen, in: DER SPIEGEL Nr. 30/2002, S. 28-31.

in: Treusch-Dieter, Gerburg, Düker, Ronald, Gehrke, Claudia (Hg).,Konkursbuch Auto, Tübingen 2004, S. 161-170).

Zähmung und Unterwerfung von Auto und Selbst

Der ungeheure Erfolg des “Leitfossils” Automobil ist aus der Mythologie und den Symboliken zu erklären, die es auf sich vereinigt.[1] Diese große Erzählung, dieses Versprechen von Individualität und Freiheit, von Autonomie und Allbeweglichkeit steht jedoch gleichzeitig für eine “illusionäre Verkennung”: Vom Autokörper umgeben, glaubt der Mensch, freies und autonomes Subjekt zu sein, und ist dennoch “effektiv an Prozeduren der Unterwerfung” gebunden, schreibt Käte Meyer-Drawe. “Das Auto teilt und konterkariert die Utopien der Moderne.”[2]

Dieser Widerspruch spitzt sich derzeit immer stärker zu. Besonders deutlich wird dies zum einen an der zunehmenden Überwachung und Kontrolle des Verkehrs, zum anderen an der technologischen Mutation des Autos selbst. Immer rasanter wird das Automobil zu einem “gefährlichen Ort” gemacht, an dem ständig mit “verdachtsunabhängigen Kontrollen” der Polizei gerechnet werden muss. Neben der Intensivierung der Verkehrsüberwachung von außen wird das Auto außerdem zunehmend von innen unter elektronische Kontrolle gebracht, die Selbst- von der Fernsteuerung abgelöst.

Die Mythologie des Automobils unterliegt dabei einer radikalen Auflösungsbewegung: Während sie zu Beginn aus einem “Gemisch von Geschwindigkeit, Unbequemlichkeit und Gefahr” bestanden habe, könnte “das Auto künftig ein völlig gezähmtes Objekt” werden, “das gänzlich vom Märchenhaften in die Realität übergewechselt ist”,[3]schrieb Roland Barthes bereits 1963.

Die entscheidende Rolle spielt in diesem Prozess der zu vermeidende Unfall. Die alte Mythologie der Automobilität kollidiert mit der neuen Utopie des unfallfreien Verkehrs. Paradoxerweise wird die durch den Ausschluss des Unfalls einzulösende Automobilität somit erst recht ausgeschlossen.

Im folgenden soll zunächst diese Unfall-Spur aufgenommen werden, um einige aktuelle Momente der angesprochenen Unterwerfung und Zähmung nachzuzeichnen. Anschließend soll exemplarisch gezeigt werden, wie die Mythologie des Automobils mit dem Verweis auf die DNS aufgefrischt wird. Hier zeigt sich, dass die Durchdringung der Öffentlichkeit mit einem Artefakt wie dem Automobil oder dem Genom einer Übersetzung technischer Programme in kollektive Mythen, Symboliken und Wünsche entspricht.

Von der Unfallfotografie zur Radarfalle

Die Fotografien des Schweizer Polizeifotografen Arnold Odermatt wirken heute wie Bilder aus einem lange vergangenen Zeitalter. In seiner 42-jährigen Dienstzeit fotografierte er mit seiner Rolleiflexkamera Verkehrsunfälle auf den Straßen des Schweizer Kantons Nidwalden.

“Einäugig in die Kamera starrende Autowracks mit zähnefletschendem Kühlergitter finden sich ebenso wie der hilflos gestrauchelte Citroën, dem das Hinterteil abgerissen ist.”[4] In diesen ineinander gekrachten Fahrzeugen aus den 50er und 60er Jahren befand sich zwar noch kein einziger Mikroprozessor und der Verkehrsstrom floss noch ohne Kameraüberwachung dahin. Als Objekt polizeilicher Überwachung eignet sich der Autoverkehr aber schon, seitdem jedes Fahrzeug ein individuelles Kennzeichen hat.[5]

Der nachträglich dokumentierende “PostCrash”-Polizistenblick, den Odermatt durch seine Kamera fallen liess, wurde schon bald von der “PreCrash”-Polizeikamera übertroffen. Vor genau 45 Jahren nahm die “unfallpräventive” Fotografie der Verkehrspolizei in Deutschland ihren Anfang: Am 15. Februar 1959 wurde in Düsseldorf die erste Radarfalle aufgestellt.[6] Nun musste die Polizei die entsprechenden Strecken nicht mehr per Hand abmessen, um die Geschwindigeit dann per Stoppuhr festzustellen.[7]

Der Verkehr wird zum Einfallstor für den Polizeistaat

Neuere Systeme wie die österreichische Section Control kehren das Prinzip der Radarfalle um: Anstatt nur Raser zu registrieren, wird zunächst präventiv jedes Fahrzeug per Laserscanner und Infrarotkamera “geblitzt”. Hinzu kommt eine Ausweitung des überwachten Raumes: Im Gegensatz zu der herkömmlichen Radarüberwachung wird nicht nur die Geschwindigkeit an einem bestimmten Punkt zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessen, sondern die Durchschnittsgeschwindigkeit auf einer “bis zu 4 km” weiten Strecke errechnet.[8] Wenn ein Fahrzeug die Mindestpassierzeit unterschritten hat, wird das Beweisvideo zur Anzeigenerstellung an die Polizei weitergeleitet. Legitimiert wird diese räumliche Ausdehnung der Überwachung mit zu vermeidenden Unfällen.[9]

Auch bei dem in Deutschland geplanten Mautsystem für Lastwagen wird “jedes Fahrzeug, das auf die Mautbrücke zufährt, fotografiert”, also auch jeder PKW.[10] Selbstverständlich sichert das Betreiberkonsortium Toll Collect zu, die Bilder der mitgefilmten PKWs sofort wieder zu löschen. Auch bei der Section Control sollen nur die Daten der Raser gespeichert bleiben. Die politische Brisanz besteht aber darin, dass jederzeit eine veränderte politische Vorgabe dazu führen kann, eine wirklich “tolle Collection” von Datensätzen anzulegen. Dabei wird es nicht mehr um harmlose verkehrsbezogene Maßnahmen gehen: Die Kameras eignen sich ideal für Rasterfahndungen oder die gezielte Erstellung von Bewegungsbildern.

CarSnap: Permanente Fahndung per Kamera

Laut einem der deutschen Innenministerkonferenz 2003 vorgelegten Polizeikonzept sollen an zentralen Punkten bundesweit alle Kennzeichen passierender Fahrzeuge per Videokamera aufgezeichnet und mit dem zentralen Fahndungscomputer des Bundeskriminalamtes abgeglichen werden. Fahndet die Polizei nach dem Eigentümer des Autos, wird Alarm ausgelöst.[11] Der polizeilichen Phantasie sind dabei kaum Grenzen gesetzt: Bei der unter dem Namen “CarSnap” vertriebenen Technologie kommt eine ähnliche Bild- und Mustererkennungssoftware zum Einsatz, wie bei den biometrischen Systemen, die an Flughäfen sämtliche Videoaufnahmen nach gesuchten Personen abscannen. Neben den Kennzeichen können Fahrzeuge also auch anhand ihrer Beladung, Marken, “Symbole und Logos”[12]  automatisch identifiziert werden.

Hier stellt sich die Frage, ob die Mythologie der Automobilität unter der Bedingung einer permanenten Fahndung nicht zusammenbrechen müsste. Im Fluchtwagen verkörpert sich noch das alte automobilitas-Ideal, der Mythos des mit quietschenden Reifen in die Kurve schleudernden allbeweglichen Vehikels. Wenn die Kameras nicht mehr nur zur direkten Verkehrsüberwachung, sondern allgemein für polizeiliche Repressionen genutzt werden, wird das für einen klassischen Banküberfall unentbehrliche Fluchtauto zur sicheren Falle.[13] Die Utopie des unfallfreien Verkehrs trifft sich hier mit der Utopie einer kriminalitätsfreien Gesellschaft – beide lassen sich nur in einem Polizeistaat realisieren, in dem lückenlos jeder überprüft wird.

An dem Punkt, wo die klassische Radarfalle durch Technologien wie Section control, Maut und Carsnap übertroffen wird, zeigt sich deutlich die Affinität zwischen der “Zero tolerance”-Strategie des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Giuliani und dem Ziel des unfallfreien Verkehrs, das Schweden 1997 als erstes Land der Welt unter dem Titel “Vision Zero” gesetzlich verankert hat.[14] Kennzeichenerfassung und Gebührenerhebung reichen allerdings nicht, um als Prototyp eines künftigen kontrollgesellschaftlichen Dispositivs gelten zu dürfen. Zu den von außen greifenden polizeistaatlichen Kontrollen kommt eine tiefgreifende technologische Mutation des Automobils selbst.

“Assistenzkultur” und GPS: Der Zugriff von Innen

In den Werbeanzeigen der Automobilindustrie lebt das alte Versprechen unbegrenzter, allbeweglicher Automobilität weiter: “Grenzen. Was für ein hässliches Wort.”[15] Andererseits werden diese Grenzen wiederum hervorgehoben, um im gleichen Atemzug ihre technologische Beherrschbarkeit herauszustellen: “Feuchtes Laub liegt in der Kurve. Ihr nächster Gedanke? Schön, dass es ein BMW mit DSC ist.”[16] “Eine Schrecksekunde hat 1000 Millisekunden. PRE-SAFE nutzt sie.”[17].

Wie ein Subtext liegt unter dem Abenteuer Automobilität die Grenze par excellence – der Unfall. Er stellt das Versprechen der Automobilität in Frage. Deshalb hat sich die Automobilindustrie das Ziel gesetzt, einen “unfallfreien Verkehr” zu realisieren[18] und endlich die wirkliche Automobilität einzulösen, die Beweglichkeit ohne Hindernis, ohne Stau und Unfall. Unter dem Vorwand, die Berührung des Fahrzeugs mit anderen Objekten im Unfall zu verhindern, wird mittels einer avancierten Sensorik schon im Vorfeld des Unfalls jede Berührung zwischen der Umwelt und dem Auto unter eine vollständige und permanente technologische Kontrolle gebracht. Ein Fahrzeug, dessen Räder nicht mehr blockieren (ABS), nicht mehr durchdrehen (ASR), nicht mehr rutschen (ESP), gehorcht dem Paradox einer festen Verwurzelung im Moment des Rasens.[19]

Im Gegensatz zur Radarfalle, die dem Autofahrer als bedrohliche Kontrolle von außen, als Disziplinarmaßnahme entgegentritt, von der er sich eindeutig symbolisch abgrenzen kann, stehen diese elektronischen “Fahrerassistenz-Systeme” für die im doppelten Sinne “ins Innere” eingewanderte Kontrolle, die immer schon mitfährt und mit der sich der Fahrer identifiziert.[20]

Von noch größerer Tragweite ist die Anbindung des Autos an das in den 70er Jahren vom US-Militär entwickelte Global Positioning System (GPS): Per Satellit kann die genaue Position und Fahrtrichtung eines Wagens geortet werden. Mit dem Einbau von Autoradios wurde das Fahrzeug zum Empfänger von Navigationshinweisen – nun soll es zum Sender werden: “Informationen der Fahrzeugelektronik – wie zum Beispiel zu Geschwindigkeit des Fahrzeugs, Tankfüllung, Bremsflüssigkeit, Innen- und Außentemperatur – werden mit Daten etwa aus dem Navigationssystem verknüpft. Diese Informationen werden dann an andere Fahrzeuge oder zu festen Stationen im Straßenbereich weitergeleitet.”[21]

Ausgerechnet unter dem Namen DigitalDNA[22] träumt der Chiphersteller Motorola sogar davon, im nächsten Schritt “direkte Eingriffe in die Fahrdynamik” möglich zu machen. Der Fahrer brauche das Bremslicht des vorausfahrenden Fahrzeugs nicht mehr sehen, denn “das eigene Auto kennt dann schon dessen Bremsverzögerung über die Funkverbindung.” Auffahrunfälle ließen sich so komplett vermeiden. Da auch die Vorfahrtsregeln “elektronisch nachbildbar” seien, “könnten sogar Ampeln überflüssig werden”. Das Auto wäre endlich wahrhaft automobil: Es würde “selbst in der Lage sein, den Verkehr eigenständig zu regeln.”[23]

Mit dieser totalen Kontrolle des Automobils wäre die Kameraüberwachung von außen vollkommen überflüssig. Sämtliche äußeren Apparaturen für Fahndung und Geschwindigkeitskontrolle befänden sich im Fahrzeuginneren.

Diese innere Transformation des Automobils wird jedoch von Werbeanzeigen begleitet, die es verstärkt mit der “Erhabenheitstopik des gestirnten Himmels”[24] versehen, was heute am besten über die Analogiebildung zur menschlichen DNS funktioniert.

Automobile DNS als neues Versprechen

In Automobilindustrie und Biomedizin lässt sich ein ähnlicher Fortschrittsdiskurs verfolgen: So wie sich die Autoindustrie zum Ziel gesetzt hat, das Automobil unter Kontrolle zu bringen, um einen unfallfreien Verkehr zu ermöglichen, will die Genomforschung die DNS unter Kontrolle bringen, um Krankheiten heilen zu können. Die Fremdsteuerung des Selbst durch die DNS soll aufgehoben, die Fremdsteuerung des Menschen durch das Auto eingeführt werden. Während die DNS aber bisher höchstens manipulierbar ist, steht das Automobil von Beginn an für einen vollständig programmierbaren Körpertraum – ist der Genomforschung also scheinbar voraus. Dennoch kreisen die utopischen Phantasien derzeit eher um den menschlichen Körper. Im Juni 2000 verglichen Genomforscher das Humangenomprojekt mit der Erfindung des Rades.[25] Kurze Zeit später wurde diese Analogiebildung in der Automobilwerbung aufgegriffen und die als Chiffre für das Selbst verstandene Erbsubstanz DNS in Beziehung zum Automobil gesetzt. Verschiedene zirkulierende Bilder zeugen davon: Den Anfang machte Volkswagen im Sommer 2002: “Ein Fahrzeug, das weiss, dass sie unverwechselbar sind. Das weiss, welche Position ihr Sitz haben muss. Wie ihr Gurt, ihre Spiegel und ihre Lenksäule eingestellt sein müssen. Das weiss, welche Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit sie mögen. (…) Ein automobiles Gesamtkozept, so einzigartig wie ihre DNS.”[26]

Es folgte im April 2003 SEAT mit dem Slogan: “Competition runs in our genes”. Visualisiert wurde dieser “Wettbewerb in unseren Genen” mit einer Chromosomenkarte aus Bremsspuren.[27]

Jüngstes Beispiel vom September 2003: “Jeder Mensch ist ein Unikat – warum nicht auch ihr BMW”.[28] Im Hintergrund schimmerten Buchstabenreihen aus den vier Basen der DNS.

Diese Kampagne betritt nicht zufälligerweise in einer Situation die Bühne, in der die alte Mythologie des Autos mit den neuen Unfallvermeidungstechnologien in Widerspruch gerät. Die im ersten Abschnitt skizzierte Entwicklung weg von der Selbst- hin zur Fernsteuerung wird auch im DNS-Vergleich abgebildet. Denn auch wir Menschen werden ja von unserer DNS ferngesteuert, wie uns die Genomforschung weismachen will. Bezieht man das Auto aufs Subjekt, sind wir Marsrover und die DNS sitzt auf der Erde und versucht uns auszuparken. Doch dazu später mehr.

Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt

Zunächst soll die folgende Bildanalyse der VW-Werbung zeigen, wie die Logiken von DNS und Automobil kulturell verkoppelt werden. Über die ersten beiden, nebeneinanderliegenden Seiten spannt sich eine computergenerierte Darstellung der DNS-Doppelhelix.

Auf den beiden folgenden Seiten ist eine Fotografie des Fahrerbereichs der Limousine abgebildet.

Zunächst fällt auf, dass beide Bilder jeweils für Innen- und Außenräume stehen und sich in Vorder- und Hintergrund beider Bilder diese Unterteilung wiederholt. So zeigt die Innenwelt des ersten Bildes als innere Innenwelt im Vordergrund die Doppelhelix. Demgegenüber ist als äußere Innenwelt eine nicht weiter spezifizierte Umgebung im Hintergrund zu erkennen. In dieser Gleichzeitigkeit von Sichtbar- und Unsichtbarmachung ist einerseits ein Verweis auf das sogenannte “Zentrale Dogma der Molekulargenetik” zu sehen, demzufolge die DNS der zentrale Akteur im Erbgeschehen ist und die Zelle, in der sie sich befindet, keine weitere Rolle spielt. Zudem überschneidet sich die Darstellung mit der Logik der Genmanipulation: Erst vor dem Hintergrund einer Unsichtbarmachung und Ausblendung der Zelle kann die Helix im Labor sichtbar gemacht, isoliert, aus dem Zell-Inneren nach außen gebracht und dann im Vordergrund bearbeitet werden.

Während die erste Darstellung molekularbiologischer Theorie und gentechnologischer Praxis huldigt, verkoppelt die Bildsprache des zweiten Bildes diese Logik mit der des Automobils: Auch hier finden sich die beiden Sphären. Im Vordergrund fungiert das Fahrzeuginterieur als innere Außenwelt, im Hintergrund findet sich die äußere Außenwelt: Einige hundert Meter vom Fahrzeug entfernt ist eine Brücke zu erkennen, deren Stahlträger die Helix-Form der DNS zitieren.[29] Obwohl das Auto für eine Bewegung nach Außen steht, wird der unbewegliche Innenraum gezeigt. Obwohl die DNS sich im Inneren befindet, wird sie freigesetzt und Außen als Brücke dargestellt.

Mit dieser gespiegelten Umstülpung von Innen- und Außenräumen illustriert die Anzeige sehr genau eine These der Kulturwissenschaftlerin Gerburg Treusch-Dieter. In einer Analyse verschiedener Auto-Werbeanzeigen schreibt sie, es lasse sich eine “Umkehrung der Richtung” beobachten: “An die Stelle des Außenraumes der Welt tritt heute der Innenraum des Autos”.[30] Das Interieur wird also zur Landschaft – und analog dazu wird der Innenraum der Zelle zum Außenraum der Welt mobilisiert, die DNS zur Brücke geschmiedet. Während das immobile Selbst sich im Stau verliert, wird seine mobil gemachte DNS im Labor gewonnen und vervielfältigt.

Treusch-Dieter schreibt, heute werde “zugunsten einer immobilen Verräumlichung” auf die automobile Verzeitlichung verzichtet. In den Werbeanzeigen der Automobilindustrie werde “das Auto in den genetischen Code des Selbst” hineinmanipuliert, “als sei er die Steuerung, die das Steuer des Auto übernimmt.”[31] Auch diese räumliche Dialektik lässt sich an der Anzeige gut nachvollziehen. Schließlich taucht der Fahrer als steuerndes Subjekt in der Anzeige nicht mehr auf – als hätte der in der Doppelhelix verkörperte genetische Code im fahrerlosen Phaeton seinen Platz eingenommen.

Die Organifizierung des Automobils

Diese ikonografische Umsetzung molekularbiologischer und automobiler Raum- und Blickverhältnisse führt zur Botschaft der Anzeige: Hier wird ein Fahrzeug analog zur menschlichen DNS gesetzt. So wie die DNS den menschlichen Körper zu bestimmen scheint, weiss dieses Auto scheinbar, wie es seine automobilen Körperteile auf den Menschen einzustellen hat.

Diese Übertragung menschlicher Eigenschaften auf nicht-menschliche Objekte wird Anthropomorphismus genannt. Ernst Kapp prägte gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff der “Organprojektion”. Darunter verstand er das menschliche Bestreben, Werkzeuge und Maschinen zu konstruieren, die den Gliedern und Organen des menschlichen Körpers nachgebildet sind. Im Hammer sah er zum Beispiel eine Nachbildung der Faust, im Fotoapparat ließe sich ein optimiertes Auge erkennen.[32] In der Werbeanzeige wird aber nicht behauptet, der Phaeton sei einem Organ, sondern dem Molekül DNS nachgebildet. Schließlich werden Organleiden gemäß dem molekularisierten Körperbegriff des biotechnischen Zeitalters heute auf der Ebene von DNS-Fehlern beschrieben. In diesem Sinne kann der Phaeton als anthropomorphe Molekülprojektion bezeichnet werden. Sie überschreitet den Charakter einer Nachbildung des menschlichen Körpers in drei Schritten:

Erstens behauptet die Anzeige, dass es sich bei DNS-Information um “Wissen” handle und überträgt dies auf ein technisches Artefakt wie das Auto. Dies hat den Effekt einer Organifizierung des Automobils: Es denkt mit. Physik wird zu Biologie. Umgekehrt lässt sich dieser Vorgang an der stählernen Brücke auf der zweiten Seite der Anzeige beobachten, die nichts wissen kann. Hier ist die eigentlich organische DNS zur anorganischen Form erstarrt. Biologie wird zu Physik.[33]

Zweitens: Wenn das Fahrzeug weiss, “wie ihr Gurt, ihre Spiegel und ihre Lenksäule eingestellt sein müssen”, dann verschwimmt die Trennung zwischen Fahrer und Fahrzeug. Automobiler und menschlicher Körper verschmelzen cyborgähnlich: Obwohl der Sitz de facto zum Fahrzeug gehört, wird er symbolisch als Körperteil des Fahrers zum Klingen gebracht, wenn “das Fahrzeug” weiss, welche Position “ihr Sitz” haben muss. Damit wird ein großes Versprechen gegeben: Begreift man die DNS als “Prothese par excellence”, kann der Prothesengott Mensch nun mit ihr verschmelzen, da er mit dem Phaeton eine automobile Prothese entwickelt hat, die der automobil gemachten DNS gleicht.

Und auch in einem dritten Punkt überschreitet diese Molekül- die Organprojektion: Wenn das Fahrzeug “weiss”, “wie Ihr Gurt eingestellt werden soll”, so wie “ihre DNS” angeblich “weiss”, wie sie den menschlichen Körper zu formen hat, stellt sich die Frage, wie es denn dazu kam, dass diese automobile DNS etwas weiss. Dies ist nur möglich, da diese Auto-DNS programmierbar geworden ist. Mit diesem “wissenden” Fahrzeug wird dabei also eigentlich der Bordcomputer angesprochen, in dem “Information” gespeichert wurde. Ausgeblendet wird, dass es hier der Fahrer ist, der die DNS programmiert. Deshalb braucht der Kunde vor dem Phaeton-Erbgut auch keine Angst zu haben, denn es ist keine mit Krankheiten behaftete DNS, die ihm hier angeboten wird, sondern reines, da durch den Fahrer selbst programmierbares Erbgut. Er stellt “seinen” Sitz schließlich selbst ein. Solange die DNS noch nicht vollständig programmierbar ist und die wahre Selbstbeweglichkeit/Automobilität des Menschen einlöst, soll im beworbenen Objekt ein Vorgeschmack dieser luxuriösen Zukunft genossen werden.

Nanocar oder Telemobil?

Zusammengefasst lässt sich also festhalten, dass die alte Mythologie der Automobilität mit der neuen Utopie des unfallfreien Verkehrs kollidiert.

Von außen zugreifende polizeistaatliche Kontrollen des Verkehrs werden zu diesem Zweck mit einer tiefgreifenden technologischen Transformation des Autoinneren verschaltet. Diese Entwicklung von der Selbst- zur Fernsteuerung bildet sich gleichzeitig in einer Analogiebildung von Auto und DNS ab. Das Automobil wird dem programmierbar gewordenen genetischen Code nachgebildet, der die Steuerung des Autos/Selbst übernimmt. Diese technologisch gestützte Herrschaft trägt zu einer radikalen Auflösung des alten mythologischen Versprechens unbegrenzter, allbeweglicher Automobilität bei.

Für die Zukunft des Automobils deuten sich demnach zwei mögliche Lösungen an: Entweder “braucht der Mensch eines Tages ja kein Auto mehr, weil er selbst mit Hilfe seiner Gen- und Nanotechnologien eines geworden ist.”[34] Oder Roland Barthes Diagnose bewahrheitet sich: Es sei “normal, dass das Auto alles Fabelhaft-Heroische verliert, denn das Abenteuer wird heute vollständig von der Erforschung des Weltraums absorbiert: Im Wettstreit mit Weltraumraketen vermag das Automobil keinen Traum ungeahnter Geschwindigkeit mehr zu verwirklichen; es ist von nun an ein immobiles Objekt.”[35]

Als wollte die Scuderia Ferrari den Willen demonstrieren, dieses Rennen zu gewinnen, deponierte sie 2003 an Bord der ESA-Sonde MarsExpress ein kleines Reagenzglas mit roter Ferrari-Farbe, das mit einer zehnfachen irdischen Schallgeschwindigkeit auf 10800 km/h beschleunigt zum Mars raste.

Das kann jedoch nicht davon ablenken, dass die eigentlichen Prototypen künftiger, völlig ferngesteuerter Automobilität in den Marsrovern zu finden sind. Abgefedert von grossen Airbags sollte etwa die europäische Raumsonde Beagle in Form eines kontrollierten crashs auf dem Mars landen. Während der zu vermeidende Unfall auf der Erde nur noch eine ideologische Figur ist, um die Implementierung eines umfassenden Kontroll- und Überwachungsapparates zu legitimieren, überwinden die Marsrover den Unfall, indem sie ihn in sich aufnehmen. Insofern ist Beagle dem heutigen Auto weit voraus. Anstatt unfallfreie Utopien zu verkünden, wird gleich per crash eingeparkt. Das ist konsequent. Leider meldete sich die Sonde seit ihrem Aufprall nie wieder. Und der US-amerikanische Rover Spirit verhedderte sich nach der Landung so in seinen Airbags, dass er rückwärts ausgeparkt werden mußte. Selbst die Bewirtschaftung des crashs schützt also nicht vor einem unvorhergesehenen Unfall. Der echte Unfall im falschen crash bleibt ein subversives Element, das sich der Berechnung entzieht.

Literatur

Barthes, Roland, Mythologie des Automobils, in: NRW-Forum Kultur und Wirtschaft (Hg.), Auto-nom, Das Automobil in der zeitgenössischen Kunst, Ostfildern-Ruit 2003.

Berns, Jörg Jochen, Himmelfahrten, Mutmaßungen zu Herkunft und Heimkehr des Automobils, in: Winzen, Matthias, Bilstein, Johannes (Hg.), Ich bin mein Auto, Die maschinalen Ebenbilder des Menschen, Köln 2001, S. 11-24.

Fraunhofer-Gesellschaft (Hg.), Networked Vehicle: (Auto)mobile Kommunikation, Pressemitteilung vom 21. Februar 2002.

HypoVereinsbank (Hg.), Märkte & Chancen Automobil-Zulieferer, Branchenreport 2003.

Kapp, Ernst, Grundlinien einer Philosophie der Technik, Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877.

Meyer-Drawe, Käte, Das Auto – ein gepanzertes Selbst, in: Winzen, Matthias, Bilstein, Johannes (Hg.), Ich bin mein Auto, Die maschinalen Ebenbilder des Menschen, Köln 2001, S. 101-113.

Ruppert, Wolfgang (Hg.), Fahrrad, Auto, Fernsehschrank, Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt am Main 1993.

Strübin, Eduard, Volkskundliches zum Automobil, in: Schweizer Volkskunde, Korrespondenzblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, Nr. 63, S. 1-13.

Teepe, Gerd, Intelligenz von draußen, in: Automotive, Juni 2003, S. 9-11.

Treusch-Dieter, Gerburg, Das Ende einer Himmelfahrt, in: Lösch, Andreas, Schrage, Dominik, Spreen, Dierk, Stauff, Markus (Hg.), Technologien als Diskurse, Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg 2001, S. 239-253.


[1] Die Paläontologie  bezeichnet Arten, die nur kurze Zeit existiert haben, dafür aber räumlich weit verbreitet waren, als “Leitfossilien”. Auf das Automobil wurde der Begriff erstmals von Eduard Strübin – und nicht Stubin, wie er oft  falsch zitiert wird – übertragen. (vgl. Strübin, Eduard, Volkskundliches zum Automobil, in: Schweizer Volkskunde, Korrespondenzblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, Nr. 63, S. 1-13).

[2] Meyer-Drawe, Käte, Das Auto – ein gepanzertes Selbst, in: Winzen, Matthias, Bilstein, Johannes (Hg.), Ich bin mein Auto, Die maschinalen Ebenbilder des Menschen, Köln 2001, S. 111f.

[3] Barthes, Roland, Mythologie des Automobils, in: NRW-Forum Kultur und Wirtschaft (Hg.), Auto-nom, Das Automobil in der zeitgenössischen Kunst, Ostfildern-Ruit 2003, S. 65 und 61.

[4] Die Stille nach dem Crash, in: taz vom 5. November 2001.

[5] 1901 wurde die Kennzeichenpflicht in Deutschland eingeführt, 1907 wurden erstmals alle Automobile gezählt. (vgl. u.a. Ruppert, Wolfgang, Das Auto, in: Ruppert, Wolfgang (Hg.), Fahrrad, Auto, Fernsehschrank, Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt am Main 1993, S. 126).

[6] 40 Jahre Geschwindigkeitsmessung in Deutschland, in:http://www.radarfalle.de/technik/history/brd_1959.php  (Stand: 20. Dezember 2003).

Offiziell eingeführt wurde das Radarverfahren vom Nordrhein-Westfälische Innenministerium am 21. Januar 1957. (vgl. 45 Jahre Radarfalle, in:http://rechtsgeschichte-life.jura.uni-sb.de/2002Januar.htm (Stand: 20. Dezember 2003)).

[7] Automobil- und Verkehrschronologie, 1951 – 1960, in:http://www.muellerman.net/verkehr/1951bis1960.htm (Stand: 20. Dezember 2003).

[8] ASFINAG, Section Control, in:http://www.asfinag.at/sicherheit/section_control.htm (Stand: 17. Januar 2004).

[9] Dieses System ist z.B. seit dem 12. August 2003 im Kaisermühlentunnel auf der Wiener Donauuferautobahn in Betrieb.

[10] Joachim Rieß, Datenschutzexperte bei Toll Collect, in: Hamburger Abendblatt vom 26. September 2003.

[11] Diese Praxis ist in London bereits Realität. Dort werden seit Jahren alle Ein- und Ausfallstraßen per Video überwacht. Auch am Züricher Sihlquai werden täglich 10.000 Fahrzeuge überprüft.

[12] CarSnap, in: http://www.cesag.com/inhalt/carsnap/carsnap_prosp_d.pdf(Stand: 17. Januar 2004).

[13] Um Unfallflucht unmöglich zu machen, gibt es den Vorschlag, etwas DNS des Autobesitzers in den Lack zu mischen (vgl.http://www.halfbakery.com/idea/Car_20DNS (Stand: 10. Januar 2004)).

[14] vgl. VISION ZERO, in: http://www.vv.se/traf_sak/nollvis/tsnollvis3.htm(Stand: 26. Januar 2003).

[15] Werbeanzeige von Mazda, in: DER SPIEGEL Nr. 38/2002, S. 106-107.

[16] Werbeanzeige von BMW, in: DER SPIEGEL Nr. 35/2002, S. 28-31.

[17] Werbeanzeige von Mercedes-Benz (aufklappbar), in: DER SPIEGEL Nr. 43/2002, S. 1-2.

[18] vgl. DaimlerChrysler (Hg.), HighTech Report 2001, S. 7/8.

[19] Laut einer Studie wird der Elektronik-Anteil im Auto von derzeit 22% auf 35% im Jahre 2010 ansteigen (vgl. HypoVereinsbank (Hg.), Märkte & Chancen Automobil-Zulieferer, Branchenreport 2003, S. 9).

[20] Die Bezeichnung “der Fahrer” wurde in diesem Text bewußt geschlechtsspezifisch belassen, um die noch immer starke männliche Aufladung dieser Subjektposition nicht unsichtbar zu machen.

[21] Fraunhofer-Gesellschaft (Hg.), Networked Vehicle: (Auto)mobile Kommunikation, Pressemitteilung vom 21. Februar 2002, in:http://www.berlinews.de/archiv-2002/1188.shtml (Stand: 11. April 2002).

[22] Intelligenz auf Rädern, in:http://www.motorola.com/mot/doc/0/223_MotDoc.pdf (Stand: 1. Februar 2004).

[23] Teepe, Gerd, Intelligenz von draußen, in: Automotive, Juni 2003, S. 10f.

[24] Berns, Jörg Jochen, Himmelfahrten, Mutmaßungen zu Herkunft und Heimkehr des Automobils, in: Winzen, Matthias, Bilstein, Johannes (Hg.), Ich bin mein Auto, Die maschinalen Ebenbilder des Menschen, Köln 2001, S. 16.

[25] vgl. Frankfurter Rundschau vom 27. Juni 2000.

[26] Werbeanzeige von Volkswagen, in: DER SPIEGEL Nr. 30/2002, S. 28-31.

[27] Seat-Anzeige, in: TVSpielfilm 8/03, Ausgabe vom 15. bis 18. April 2003. S. 249.

[28] Ausstattungen, in: BMW 5er Limousine, Katalog, BMW AG, München 2003.

[29]Das Bild zeigt eine Ansicht der 1887 errichteteten und 1960 umgebauten Norderelbbrücken in Hamburg. Für weitere Fotos vgl. http://www.bildarchiv-hamburg.de/hamburg/hafenelbe/bruecken/index2.htm undhttp://www.brueckenweb.de/Datenbank/Suche/brueckenblatt1.php3?brueckennummer=76 (Stand: 20. April 2003).

[30]Treusch-Dieter, Gerburg, Das Ende einer Himmelfahrt, in: Lösch, Andreas, Schrage, Dominik, Spreen, Dierk, Stauff, Markus (Hg.), Technologien als Diskurse, Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg 2001, S. 250.

[31] ebd.

[32]vgl. Kapp, Ernst, Grundlinien einer Philosophie der Technik, Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877.

Mit dieser These hat Ernst Kapp Freuds “Prothesengott” und McLuhans Deutung der Medien als “Extensions of Man” vorweggenommen!

[33]Der Begriff Molekular-Bio-Logie trägt dieses Paradoxon bereits in sich: Das Molekulare verweist auf die Physik, die sich als Atomphysik dem Anorganischen widmet, während bios das Leben meint, also etwas dem Organischen zugehöriges. Und die -logie verweist auf den Logos, der beides zu fassen sucht.

[34]Meyer-Drawe 2001, S. 112.

[35] Barthes 2003, S. 65.

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