Die kulturelle Symbolik des Radfahrens entfaltet sich in Frankreich zwischen Komödie und Tragödie. Das Alltagsrad muss erst Mode werden, um sich durchzusetzen
Auf dem Pariser Messegelände fand kürzlich zum zweiten Mal die französische Fahrradmesse Salon du Cycle[1] statt. Im Gegensatz zum Automobil gibt es beim Fahrrad echte Innovationen zu bestaunen. Mit Nabendynamos und LED-Scheinwerfern bleibt das Licht auch bei Regen an. Unplattbare Reifen lassen Pannen der Vergangenheit angehören. Hydraulische Bremsen pressen die Bremsbacken ohne Reibungsverlust des Bowdenzugs an die Felge. Neuartige Edel-Schaltungen ehemaliger Porsche-Ingenieure versprechen wartungsfreien Betrieb. Manche Fahrräder wiegen nur noch 6 anstatt 16 Kilo. Sogar die alte ölige Fahrradkette lässt sich durch einen Riemenantrieb ersetzen. Das Fahrrad ist zum Designobjekt und Innovationsträger geworden.
E-Bikes: Am Batteriendesign zeigt sich ein kultureller Bruch
Und jedes Jahr steigen die Verkäufe der Elektroräder[2], die dem Auto auf urbanen Mittelstrecken Konkurrenz machen. Wen wundert es da, dass auch Patrick Blain, Präsident des französischen Autoherstellerverbands Comité des Constructeurs Français d’Automobiles (CCFA[3]) über die Messe schlenderte und das Elektrobike eines deutschen Autoherstellers genau unter die Lupe nahm.
Diese Eigenschaft unserer Wahrnehmung zu wissen, wie ein Fahrrad aussieht, machen sich manche Designer aber auch zu Nutze: Sie verleihen der Batterie die Form einer Trinkflasche und bringen sie am gewohnten Platz unter. Hier gelingt die Integration des neuen Zusatzes in das alte Objekt sehr gut.Das Design der Batterien verrät, dass der technische Sprung der Elektro-Fahrräder noch eine eigene Form sucht: Ihre klötzchenartige Gestaltung macht sie zu optischen Fremdkörpern am filigranen Fahrradrahmen. Meist befinden sie sich als dunkle Kästchen auf dem Gepäckträger oder in der Rahmenmitte. Dies verleiht ihnen optisch sehr viel Gewicht und unterstreicht gleichzeitig, dass sie zum schon lange bekannten Rahmendesign hinzugefügt wurden.
Angesichts dieser technischen Innovationen stellt sich die Frage nach der kulturellen Nutzung des Fahrrads. Frankreich ist nach Deutschland und Großbritannien der drittwichtigste Fahrradmarkt in Europa: Im letzten Jahr wurden hier 2,9 Millionen Fahrräder verkauft. Jedes zweite Rad kauften die französischen Kunden bei den großen Sportketten. Den größten Anteil[4] machen mit 62 % die Freizeiträder aus.
Noch ist das Fahrrad in Frankreich primär ein Freizeitsportgerät
Es ist paradox, dass trotz steigender Verkäufe die Nutzung des Zweirads stagniert: Nur 3 % der alltäglichen Fahrten werden in Frankreich mit dem Fahrrad zurückgelegt (Enquête nationale transports déplacements, 2008[5]). Das Fahrrad hat den Status eines gerne gekauften Sportgeräts, bleibt aber bis auf den Sonntag im Keller.
La grande boucle, wie die Tour de France genannt wird, trug aber auch zur Popularität des Radfahrens im Alltag bei. Bis zum 2. Weltkrieg war das Fahrrad eines der Hauptverkehrsmittel. Erst die Massenmotorisierung der Trente Glorieuses (1945-1975) verdrängte die Radfahrer von der Straße. Hierfür war eine radikal autozentrierte Verkehrspolitik verantwortlich, von niemandem deutlicher verkörpert als von Präsident Georges Pompidou, der forderte, „die Stadt an das Auto anzupassen“. Diese Politik drängte das Radfahren in den Freizeitbereich ab.Die Marginalisierung des Fahrrads im Alltag hat historische und kulturelle Gründe: Die Geschichte der petite reine, wie die Franzosen la bicyclette auch liebevoll nennen, ist in Frankreich untrennbar mit der Tour de France verbunden. Das seit 1903 veranstaltete legendäre Radrennen setzte das Fahrrad als Sportmaschine des kommerziellen Wettbewerbs in Szene.
Drei Ebenen des Mobilitätswandels: Nische, Regime, Masterdiskurs
Heute kehrt das Fahrrad vor allem in den Städten langsam als Alltagsverkehrsmittel zurück. Der Wandel ist jedoch zäh, denn Mobilitätssysteme sind Teil emotionaler Bindungen. Neue Mobilitätsformen können sich nur durchsetzen, wenn auf drei Ebenen Veränderungen eintreten, erklärt[6] die Soziologin Mimi Sheller:
Erstens werden in lokalen Nischen neue Erfahrungen gesammelt, die das Gesamtsystem allerdings noch nicht beeinflussen. In Frankreich beginnt das Fahrrad diese Nische gerade erst zu erobern.Unter einem Mobilitäts-Regime versteht Sheller zweitens den kulturellen Rahmen, in dem sich etwas Neues entwickeln kann. Entscheidend ist das Verhalten der institutionellen Akteure, etwa die Verkehrspolitik der Stadt Paris, die den innerstädtischen Autoverkehr verringern will.Überformt wird dies drittens vom Landscape-Level, den besonders veränderungsresistenten Masterdiskursen also, die unser Verständnis von Mobilität leiten. Darunter fällt zum Beispiel die Vorstellung, Automobilität sei mit Freiheit gleichzusetzen.
Jacques Tati zeigt das Fahrrad in Jour de fête (1949) als ein dem Beschleunigungsdruck der Moderne unterlegenes, aber in seinen komischen Qualitäten unübertroffenes Objekt. Das Rad hat ein Eigenleben, es ist lebendig und kann klingelnd davon rollen. Es kann einen zu Fall bringen. Insekten stören den Geradeauslauf. Wie bei einem Zirkuspferd muss der Fahrer darum kämpfen, es unter seiner Kontrolle zu behalten, er landet also auch mal im Fluss. Briefträger François überholt spielend eine Meute von Rennradfahrern und behauptet sich damit als die eigentliche kulturelle Ikone.
Louis Malles Dokumentarfilm Vive le tour[7] von 1962 zeigt das Radfahren hingegen als etwas sehr Ernstes: Mühsam arbeiten sich die Fahrer den Berg hinauf, Verletzungen, fürchterliche Stürze, Ohnmacht. Das begeisterte Publikum schiebt erschöpfte Fahrer an, bringt ihnen Bier und Wein aus den Kneipen.
Malles Film zeigt kein fetischistisches Interesse für das Rad als Objekt, wie es auf den Fahrradmessen zelebriert wird. Er untersucht in humanistischer Perspektive, was das Radfahren mit dem Menschen macht. Die Essenz des Radfahrens besteht nicht im Transport, sondern in der Transzendenz. Das Rad transportiert den Fahrer in eine andere Welt, die Welt des Schmerzes, der Leiden und der Selbstüberwindung. Auf dem Mont Ventoux, schrieb Roland Barthes, verlasse der Radfahrer die Erde und finde sich in der Nachbarschaft unbekannter Sterne wieder.
Folgt man den filmischen Bildern, entfaltet sich das Imaginäre, die kulturelle Symbolik des Radfahrens in Frankreich, also zwischen der Komik des Briefträgers und der Tragödie des Rennfahrers. Fahrradfahren ist in erster Linie großes Theater, sei es während der Tour de France, im Film – aber auch im Alltag. Das Fahrrad gehört zur Ordnung des Spektakels, ist Teil eines Bühnenstücks. Es wird nicht gefahren, sondern aufgeführt.
Findet das Rad zwischen Komödie und Tragödie eine neue Rolle?
Dies bietet vielleicht die Chance, das Fahrrad von einem Freizeitobjekt in eine Alltagsmaschine zu verwandeln. Weniger die ökologischen oder ökonomischen Argumente ziehen, sondern Mode und Design: In Paris läuft die neue Haltung zum Radfahren über den Cycle Chic[8], also eine Inszenierung des Körpers. Dieser Trend wirft die komödiantischen und tragischen Elemente des Masterdiskurses nicht aus dem Sattel, sondern bindet sie spielerisch ein, wie sich besonders an der Fixie-Mode[9]zeigt, aber auch am Image der Velibs, der französischen Leihfahrräder. Der Umstieg aufs Rad muss offensichtlich erst Mode werden, um sich zu realisieren.
Anhang
Links
[1] http://lesalonducycle.com
[2] http://www.letelegramme.fr/ig/generales/economie/marche-du-cycle-tout-roule-pour-le-velo-electrique-14-09-2013-2233070.php
[3] http://www.ccfa.fr/
[4] http://lesalonducycle.com/wp-content/themes/BlueBubble/documents/SalonduCycle2013_Dossierdepresse.pdf
[5] http://www.developpement-durable.gouv.fr/IMG/pdf/Rev3.pdf
[6] http://en.forumviesmobiles.org/video/2013/06/24/taking-americas-car-culture-955
[7] http://vimeo.com/21306164
[8] http://www.flickr.com/photos/cyclechicparis/
[9] http://www.youtube.com/watch?v=yJbWnVhXP8A
Copyright © Telepolis, Heise Zeitschriften Verlag
(Anmerkung: Dieser Artikel ist am 26. September 2013 auf Telepolis erschienen. Bitte lesen Sie den Artikel auch dort mit funktionierenden links und Fotos).