Vilém Flussers Medientheorie. Eine Kritik.

Hausarbeit zum Proseminar 15 329 „Medien und Gesellschaft“ / Dozent: Dietmar Schirmer / Freie Universität Berlin – Fachbereich Politische Wissenschaften / Politisches System der Bundesrepublik / Sommersemester 1996 / Von Fabian Kröger

„Viele Fehler“, sagte Herr K., „entstehen dadurch, daß man die Redenden nicht oder zu wenig unterbricht. So entsteht leicht ein trügerisches Ganzes, das, da es ganz ist, was niemand bezweifeln kann, auch in seinen einzelnen Teilen zu stimmen scheint, obwohl doch die einzelnen Teile nur zu dem Ganzen stimmen.“ 

Bertolt Brecht

Inhalt

I. Einleitung 


II. Vilém Flussers Medientheorie
1. Der durch die elektronischen Gedächtnisse ausgelöste kulturelle Paradigmenwechsel

1.1.1. Genetisches und kulturelles (orales und materielles) Gedächtnis

1.1.2. Die Erfindung des Alphabetes

1.1.3. Die Bibliothek als sakralisiertes Kulturgedächtnis

1.2.1 Die Erfindung der elektronischen Gedächtnisse

1.2.2. Eine neue Anthropologie

2. Virtuelle Welten 

2.1.1. Die Neuzeit: Vom Ideal zum Modell, vom historischen zum kalkulatorischen Denken

2.1.2. Die Erfindung der Differentialgleichung

2.2.1. Die Erfindung der Schnellrechenmaschinen

2.2.2. Eine neue Anthropologie 

III. Interpretation und Kritik 

1. Flussers Reduktion der Geschichte auf die Effekte technologischer Entwicklung

2. Der fehlende Bezug zu sozialen Kategorien

3. Am Ende der freien Entscheidung

4. Die Affirmation der Gentechnologie

5. Technologie- und Naturbegriff

6. Mögliche Kriterien für ein kritisches Technologieverständnis 

IV. Zusammenfassung und Schluß 

V. Bibliographie 

I. Einleitung

Behauptet wird, die „Mediatisierung führt(e) zu einer anderen Logik“ (Peter Weibel am 20.4.96 in der literaturWERKstatt), es wird davon gesprochen, daß „die neuen Technologien zu tiefgreifenden Veränderungen führen und die traditionellen Orientierungssysteme erschüttern“ (Rötzer 1991:2), „der Schein (…) an die Stelle des realen Seins getreten“ sei (Jung 1995:203),  prognostiziert wird „das Verschwinden der Realität, die Auflösung des Subjekts, die Zerstörung des tradierten Sinns“ (Jung 1995:230 zu Baudrillard), die „Auflösung von zeitlicher Kontinuität und von Sinnzusammenhängen“ (Kuhlmann 1994:21). Manche sehen „vertraute Raum- und Zeitkoordinaten (…) im Ansturm von Daten, Informationen, Waren“ verschwinden (Kuhlmann 1994:2) oder postulieren: „Grundsätzlich stellen die Technologien der Simulation ja die Differenz von Realem und Imaginärem in Frage“ (Bolz 1993:114).  Es zirkuliert sogar „die Vorstellung, die Welt der synthetischen Bilder subvertiere herrschende Geschlechter-, Raum- und Zeitverhältnisse“ (Buchmann in: Babias 1995:85).

Auch der Publizist und Professor für Kommunikationsphilosophie Vilém Flusser sagt, „wir können keine Subjekte mehr sein (…)“ (Flusser in: Rötzer 1991:157), behauptet, „entweder sind die alternativen Welten ebenso real wie die gegebene oder die gegebene ist ebenso gespenstisch wie die alternativen“ (ebd.), meint, „ein neues Zeiterlebnis, ein neuer Zeitbegriff“ käme ins Spiel (Flusser 1995:13) und „eine Verflüchtigung des historischen Bewußtseins“ sei festzustellen (Flusser 1995:35). Von zentraler Bedeutung ist dabei in seiner Medientheorie die Umwälzung des Denkens und der Geschichte durch die digitalen Technologien. „Elektronische Gedächtnisse sind daran, unser kulturelles Gedächtnis umzuformen.“ (Flusser in: ars electronica 1989:41).

Mein Interesse ist es, diese inflationär gebrauchten Prognosen des angeblich gegenwärtig stattfindenden kulturellen Bruchs zu hinterfragen. Lösen die digitalen Technologien einen Umbruch in den gesellschaftlichen Organisationsprinzipien aus, führen sie zu einer veränderten Wahrnehmung, determiniert die technologische Entwicklung im Medienbereich eine Verschiebung der Raum-Zeit-Koordinaten, einen Paradigmenwechsel im Denken? Da sich das relevante Theoriefeld von praktisch-technischen Fragen der Internet-Vermarktung und -Struktur über ökonomische Gesichtspunkte der postfordistischen Automation bis hin zu philosophisch-ästhetischen Publikationen zu den Neuen Medien im Schlagschatten des Postmoderne-Diskurses erstreckt, ist es notwendig, eine Begrenzung vorzunehmen. Da es mein Ziel ist, bestimmte Grundannahmen zu kritisieren, die fast sämtliche Medientheoretiker in ähnlicher Form teilen, werde ich versuchen, diese Thesen anhand der Überlegungen Vilém Flussers exemplarisch herauszustellen und zu überprüfen. Es geht mir dabei darum, herauszufinden, welche Reduktionen und Determinismen seine Theorie strukturieren.

Zum Vorgehen: Das erste Kapitel folgt strukturell und inhaltlich Flussers kommunikationsgeschichtlicher Sicht auf die verschiedenen „Gedächtnisstützen“ und soll seinen Erklärungsansatz darstellen. Da eine vollständige Darstellung von Flussers Medientheorie im Rahmen einer Hausarbeit nicht möglich ist, beschränke ich mich auf seine Auseinandersetzung mit (alphabetischen und elektronischen) Gedächtnissen sowie den von ihm postulierten Paradigmenwechsel vom historischen zum kalkulatorischen Bewußtsein und lasse bspw. seine Ausführungen zu Photographie, Video und Telephonie beiseite. Auch seine Thesen zu Urbanität im Zeitalter virtueller Welten müssen ausgeklammert bleiben. Ich beschränke mich also auf die Publikationen, in denen er darlegt, welche Effekte digitale Technologien seiner Ansicht nach auf das Bewußtsein und die Gesellschaft haben. Im zweiten Kapitel bemühe ich mich um eine Kritik an Flussers Thesen, inbesondere werde ich seine technikdeterministische Sichtweise der Geschichte, den fehlenden Bezug zu sozialen Kategorien, seinen Technologie- und Naturbegriff und seine Haltung zur Gentechnologie untersuchen. 

II. Vilém Flussers Medientheorie

1. Der durch die elektronischen Gedächtnisse ausgelöste kulturelle Paradigmenwechsel

1.1.1. Genetisches und kulturelles (orales und materielles) Gedächtnis

Flusser stellt die These auf, der Begriff „Menschenwürde“ werde durch die Praxis mit elektronischen Gedächtnissen eine neue Bedeutung erhalten, da diese daran seien, unser kulturelles Gedächtnis umzuformen. Doch was macht den Menschen laut Flusser bisher aus? Indem der Mensch nicht nur ererbte, sondern auch erworbene Informationen weitergebe, widerspreche er der Natur doppelt: Obwohl der 2. Grundsatz der Thermodynamik besage, daß alle Informationen dazu neigten, vergessen zu werden, speicherten Lebewesen genetische Informationen und gäben sie weiter. Und obwohl laut Mendelschem Gesetz die Übertragung erworbener Informationen von Organismus auf Organismus nicht möglich sei, speichere der Mensch Informationen in einem für folgende Generationen zugänglichen kulturellen Gedächtnis. Diese „doppelte Naturverneinung“ sei zwar nur scheinbar, da „alle gespeicherten Informationen in den allgemeinen Strom in Richtung Entropie zurückkehren müssen“ (Flusser in: ars electronica 1989:41), kennzeichne aber die „Menschenwürde“: Wir sind laut Flusser „historische Wesen“, die über genetische und kulturelle Gedächtnisse verfügen.

Im folgenden beschäftigt sich Flusser mit den Eigenarten der verschiedenen Gedächtnisstützen. Gedächtnisse begreift er als Informationsspeicher, die wie Inseln aus dem „allgemeinen Strom zur Entropie hin“ (ebd. 42) aufgetaucht seien, so z.B. die Biomasse. Das Kopierverfahren dieses genetischen Gedächtnisses sei jedoch fehlerhaft, denn es füge z.B. durch Mutationen neue Informationen hinzu. Der gentechnische Versuch, „erworbene Informationen in der Biomasse zu speichern“ (ebd. 43), also aus ihr ein kulturelles Gedächtnis zu machen, müsse diesen Umstand berücksichtigen. 

Da auch das kulturelle Gedächtnis auf den sehr labilen oralen und materiellen Gedächtnisstützen basiere, verdiene es jedoch noch weniger Vertrauen als das genetische. So seien die Luftwellen, die sich unsere Sprachorgane zu Nutze machen, für informationszersetzende Geräusche offen, zudem werde die Information bei der Speicherung im Nervensystem des Empfängers verzerrt. Auch die in der „ma­teriellen Kultur“ gespeicherten Informationen seien dem Verfall ausgeliefert, z.B. verliere ein Werkzeug durch Abnutzung die in ihm gespeicherte Information. Orale und materielle Gedächtnisse sind nach Flusser demnach fragwürdige Kulturspeicher, da die gespeicherten Informationen dem Verfall ausgeliefert sind. 

1.1.2. Die Erfindung des Alphabetes

Mit der Erfindung des Alphabetes konnten nach Flusser die Vorteile der oralen und der materiellen Kultur verknüpft werden: gesprochene Phoneme konnten in visuelle Zeichen umkodiert und auf materielle Untergründe geprägt werden. In Form von Texten konnten Informationen nun gespeichert, abgerufen und kopiert werden. Mit dem Alphabet entstand laut Flusser ein zuverlässiges kulturelles Gedächtnis: „Geschichte im eigentlichen Sinn wurde möglich. Und das hatte eine radikale Veränderung des Denkens und Handelns zur Folge. Die Linearität des alphabetischen Codes schlug auf das Denken zurück, es wurde selbst linear (fortschrittlich), und geschichtsbewußtes Handeln (also letzterdings Technik) wurde möglich.“ (ebd.:45/46).

1.1.3. Die Bibliothek als sakralisiertes Kulturgedächtnis

In der Folge der Erfindung des Alphabetes etablierte sich die Bibliothek als neues kul­turelles Gedächtnis. Dessen Funktion kehrte sich nun jedoch um. Die Bibliothek  wurde ideologisch sakrali­siert, sie war nicht länger Gedächtnisstütze, „nicht sie diente dem Menschen in seinem Engagement, erworbene Informationen vor der Entropie zu bewahren, sondern im Gegenteil der Mensch diente ihr, um in ihr vor der Entropie (vor dem Tod) bewahrt zu werden.“ (ebd. 46). Flusser hebt die platonische Variante dieser Ideologie hervor: „Alle etwa in der Welt der Erscheinungen erworbenen Informationen sind trügerisch („doxai“), und nur die uns eingeborenen wiederzuentdeckenden Informationen sind gültig („sophia“).“ (ebd. 47). In der Bibliothek sei die Wiederentdeckung der durch unseren Sturz in „die Welt der trügerischen Erscheinungen“ (ebd. 47) vergessenen Informationen möglich.  Auf dieser Ideologie bauen laut Flusser alle sogenannten westli­chen Werte auf, die Grundstruktur des Christentums sowie des modernen wissenschaftlichen Denkens könne an ihr abgelesen werden. Vor allem aber konstituiere sich gegenüber diesem sakralisierten Kulturgedächtnis die Selbstidentifizierung des Menschen als „Subjekt“ einer „immateriellen“ Bibliothek. Die Verdinglichung und Sakralisation des kulturellen Gedächtnisses, also der Fähigkeit, erworbene Informationen zu speichern und zu prozessieren, charakterisiere nahezu alle Anthropologien der westlichen Gesellschaft. Die Erfindung elektronischer Gedächtnisse werde nun dazu beitragen, „diesem Unfug ein Ende zu bereiten.“ (ebd. 49).

1.2.1. Die Erfindung der elektronischen Gedächtnisse

Elektronische Gedächtnisse simulieren laut Flusser die Gedächtnisfunktion des Gehirns in der Absicht, sie zu verbessern. Dies werde zweifellos die künftige Kultur verändern. 

Weit mehr noch würden jedoch die unbeabsichtigten Folgen der Gedächtnissimulation zu Veränderungen führen. Dazu gehört nach Flusser, daß wir einen kritischen Abstand zur Gedächtnisfunktion des Gehirns gewinnen können. 

1. Er schreibt, die zahlreichen Vorteile der Informationsspeicherung in elektronischen Gedächtnissen (bequeme Informierbarkeit, Abrufbarkeit und Übertragbarkeit, große Kapazität und zuverlässige Speicherbarkeit) führten dazu, daß nicht mehr die Daten selbst, sondern der Umgang mit ihnen erlernt werden müsse. Dieses „Prozessieren von Daten“ identifiziert Flusser mit Freisetzung von Kreativität, die durch die Entlastung des Gehirns von der Datenspeicherung ermöglicht werde.

2. Die Koppelung elektronischer Gehirne und automatischer Maschinen entlaste die Menschen von der Arbeit und befreie sie zum programmieren. „Der Mensch wird nicht mehr ein Arbeiter sein („homo faber“), sondern ein Spieler mit Informationen („homo ludens“).“ (ebd. 50).  An anderer Stelle radikalisiert er diese Aussage folgendermaßen: „Das letztliche Motiv der Kommunikation ist das Aufsetzen der Informationen auf konkrete Phänomene, ist „Weltveränderung“, ist Arbeit. Es ist gegenwärtig möglich geworden, dieses Aufsetzen der Informationen auf konkrete Phänomene automatischen Apparaten zu übertragen. Zum ersten Mal wird der Mensch frei, sich der Ausarbeitung neuer Informationen zu widmen, und nach diesen Informationen Apparate zu programmieren, damit diese für ihn die Welt verändern.“ (Flusser 1991:18).  

3. Die mühelose Falsifizierbarkeit von in elektronischen Gedächtnissen gespeicherten Informationen führt nach Flusser dazu, daß sich Geschichte, also Informationsakkumulation zukünftig als „weit disziplinierterer und kritischerer Prozeß“ (Flusser in: ars electronica 1989:51) vollziehen wird, und damit werde die Verdinglichung und Sakralisierung der Fähigkeit, erworbene Informationen zu speichern und zu prozessieren ein Ende haben. 

Diese Veränderungen repräsentieren laut Flusser jedoch nicht annähernd die Wurzel der „kulturellen Revolution“. Die bestehe in der bereits erwähnten kritischen Distanz zur Gedächtnisfunktion, also einer relationellen Sicht, die aus der Praxis mit elektronischen Gedächtnissen erwachse. Was ist darunter zu verstehen?

1.2.2. Eine neue Anthropologie

Da das Erwerben, Speichern, Prozessieren und Weitergeben von Informationen laut Flusser ein Prozeß ist, der die jeweiligen Gedächtnisstützen gewissermassen durchläuft, sei es sinnlos, ihn verdinglichen, also in einem Medium lokalisieren zu wollen. „Seele“, „Geist“, „Identität“, „Ich“ und „Selbst“ begreift er als solche verdinglichenden Begrifflichkeiten, die es „im Licht der Praxis mit elektronischen Gedächtnissen aufzugeben“ (ebd. 52) gelte. Eine noch auszuarbeitende neue Anthropologie habe den Menschen mit seiner Fähigkeit, „erworbene Informationen zu speichern, zu prozessieren und weiterzugeben („die menschliche Würde“)“ (ebd.), als Knotenpunkt eines informationsdurchströmten Netzes zu verbildlichen. Diese Knoten bestehen laut Flusser aus sich überschneidenden Relationsfeldern, sind also selbst kein „Etwas“: „entknotet man sie (löst man die Relationsfäden, die sie bilden), dann bleibt nichts übrig (wie bei der sprichwörtlichen Zwiebel).“ (ebd.). Der Mensch sei demnach eine „Verknotung (…) sich überschneidender Relationsfelder“ (ebd.). Nun sei diese relationelle Sicht nicht ausschließ­lich auf den Gebrauch elektronischer Gedächtnisse zurückzuführen, sondern habe sich in Psychologie, Politologie, Ökologie und Physik vorbereitet, die alle das Einzelne als Funktion komplexer Beziehungen ansehen. Hingegen zwinge uns „erst die Praxis mit diesen Gedächtnissen“ dazu, „die Verdinglichung und Sakralisierung unserer Fähigkeit, erworbene Informationen zu speichern, zu prozessieren und weiterzugeben“ (ebd. 53/54) zu beenden. Dies meint Flusser mit der angestrebten kritischen Distanz zur Gedächtnisfunktion. Auch wenn die von ihm kritisierte Ideologie aufgegeben würde, entschlüssele dies noch lange nicht „das undurchblickliche Geheimnis der Fähigkeit, sich der Tendenz der Natur zum Zerfall entgegenzustellen“ (ebd. 55), und es werde noch deutlicher, daß dieses Bemühen letztlich verurteilt sei, zu scheitern. 

Zusammengefasst sucht Flusser ausgehend von dem Begriff der „Menschenwürde“, die sich nach Flusser durch unsere Fähigkeit, ererbte und erworbene Informationen weiterzugeben (sich also der Entropie entgegenzustellen ) auszeichnet, nach einem zuverlässigen kulturellen Gedächtnis. Das genetische zum kulturellen Gedächtnis zu machen, kollidiere mit dem fehlerhaften Kopierverfahren des genetischen Gedächtnisses. Ein auf oralen und materiellen Gedächtnisstützen basierendes kulturelles Gedächtnis sei mit deren informationszersetzenden Eigenschaften konfrontiert. Die Erfindung des Alphabetes stellte zwar ein zuverlässiges Gedächtnis dar, das Geschichte möglich werden ließ. Die Fähigkeit des sich in der Folge etablierenden kulturellen Gedächtnisses Bibliothek, erworbene Informationen zu speichern und zu prozessieren, sei aber verdinglicht und sakralisiert worden. Einen Ausweg versprechen laut Flusser die elektronischen Gedächtnisse, die uns das Speichern der Daten, die Arbeit und die Weltveränderung abnehmen. Vor allem erlaubten sie uns jedoch eine kritische Distanz zur Gedächtnisfunktion: Die elektronischen Gedächtnisse demonstrierten uns, daß das Speichern, Prozessieren und Weitergeben von Informationen die jeweiligen Gedächtnisstützen durchlaufe, und nicht in einem Medium (z.B. der Bibliothek) lokalisierbar, also verdinglichbar seien. Die „menschliche Würde“ sei als Knotenpunkt eines informationsdurchströmten Netzes aufzufassen, als Relationsfeld und nicht als verdinglichtes „Subjekt“. 

2. Virtuelle Welten 

2.1.1. Die Neuzeit: Vom Ideal zum Modell, vom historischen zum kalkulatorischen Denken

An anderer Stelle beschäftigt sich Flusser mit der erkenntnistheoretischen Frage, warum die al­ternativen Welten als nicht real angesehen werden. Die Antwort, es handele sich eben nur „Punktelemente“, bzw. „Nebelgebilde“, sei „vorschnell, da sie Realität an der Dichte der Streuung mißt und wir uns auf die Technik verlassen können, daß sie künftig in der Lage sein wird, die Punktelemente ebenso dicht zu streuen, wie dies bei den Dingen der uns umgebenden Welt der Fall ist.“ (Flusser in: Rötzer 1991:147). Das Problem stelle sich demnach anders: „Entweder sind die alternativen Welten ebenso real wie die gegebene oder die gegebene ist ebenso ge­spenstisch wie die alternativen.“ (ebd.). Wie belegt Flusser diese These? 

Die Frage, ob es etwas gebe, das nicht trügt, lässt ihn einen Blick in die Geschichte werfen. Vor der Neuzeit sei das formale dem prozessualen Denken untergeordnet gewesen. Zu Beginn der Neuzeit sei aber entdeckt worden, daß die Welt kalkuliert werden müsse, um sie begreifen zu können. Die revolutionären Handwerker hätten sich gegen die Festlegung der Preise und der idealen Form ihrer Waren durch den Bischof gewandt. Der Wert der Waren habe sich durch den Markt selbst regeln sollen, und an die Stelle festgelegter idealer Formen sei die Ausarbeitung veränderbarer Modelle ihrer Gegenstände getreten.  „Dieser Unterschied in der Einstellung zu den Ideen (den Formen) ist die eigentliche Wurzel der Neuzeit, der Moderne.“ (Flusser 1995:46). Das Theorieverständnis habe sich vom „passive(n) Betrachten von Idealen“ zum „progressive(n) Ausarbeiten von Modellen“ (Flusser in: Rötzer 1991:148) gewandelt. Diese Arbeitsmodelle seien jedoch weder Bilder noch Texte gewesen, sondern Algorithmen. 

In der Folge habe sich ein Umbruch vollzogen. Die Theoretiker seien zuvor „Schriftkundige –litterati-gewesen, die das Denken in Bildern, das magische Denken also, bekämpft und in Schriftzeichenzeilen gedacht haben. Sie entwic­kelten ein lineares, prozessuelles, logisches, historisches Bewußtsein.“ (ebd. 149). Der lineare Schriftcode (das Alphabet) enthielt jedoch neben Buchstaben (Zeichen des Diskurses) immer schon Zahlen (Ideogramme für Mengen). Dieser alpha-numerische Code verband also das prozessuell-historische mit dem formal-kalkulatorischen Bewußtsein. 

Da nun mit der Ausarbeitung von Arbeitsmodellen die Welt als numerisch kodifiziert erschien,  dachten auch die Theoretiker laut Flusser immer mehr in Zahlen. Das buchstäbliche Denken wurde in Zahlen umkodiert. Das kalkulatorische Denken habe begonnen, das historische zu dominieren und man könne von einem geistigen Umbruch sprechen.

2.1.2. Die Erfindung der Differentialgleichung

Im Hinblick auf die Ausgangsfrage, ob es etwas gibt, das nicht trügt, führt Flusser Descartes an, für den das in Zahlen kodifizierte arithmetische Denken zur klaren Erkenntnis führe, da es im Gegensatz zum buchstäblichen Denken exakten Regeln geh­orche und die einzelnen Zahlen präzise durch Intervalle getrennt seien. Dieses Denken kollidierte jedoch nach Flusser mit der ausgedehnten Welt. „Lege ich die denkende an die ausgedehnte Sache (…), dann droht die ausgedehnte Sache durch die Lücken der denkenden zu entschlüpfen“ es sei denn, „ich kann jeden Punkt der ausgedehnten Sache mit Zahlen bezetteln“ (Flusser 1995:48). Auch mit diesem Verfahren konnten die Intervalle zwischen den Zahlen nicht überbrückt werden und erst mit der späteren Einführung von Differentialgleichungen, deren einer höheren Ordnung angehörenden Zahlen „die Intervalle auffüllen“ (Flusser in: Rötzer 1991:151)  kann „das formale mathematische Denken (…) alles erkennen und es bietet Modelle, nach denen sich alles herstellen lässt.“ (ebd.). 

Dem Umcodieren von Buchstaben in Zahlen folgte eine „Veränderung des prozessuellen, historischen und aufklärerischen Bewußtseins zu einem formalen, kalkulatorischen und analytischen Bewußtsein“ (ebd.). Die Mehrheit der Menschen denke aber „weiterhin fortschritts- und aufklärungsori­entiert“ (ebd.), und würde von den „futurologisch und systemanalytisch“ (ebd.) Denkenden do­miniert, nach deren Modellen sich die Majorität richte. Die Gesellschaft sei also „in wenige Programmierer, die formal und numerisch denken, und viele Programmierte, die buchstäblich denken“ (ebd.) gespalten. Die Gesellschaft richte sich nach „für sie unlesbaren aber befolgbaren Modellen.“ (Flusser 1995:51). 

Abgesehen von diesem demokratietheoretischen Problem sei der Allmachtsanspruch des formalen Denkens jedoch vor allem deshalb problematisch, da es in einer prak­tischen und theoretischen Sackgasse gelandet sei. Auf der praktischen Ebene stellte sich das Problem, daß die durch Differentialgleichungen ermöglichte formal unbegrenzte Erkenntnis nutzlos sei, da ihre Renumerisierung in „natürliche Zahlen“ unendliche Zeit bräuchte. So konnten die Gleichungen nicht in Arbeitsmodelle umgewandelt und nutzbar gemacht werden. Theoretisch habe eine Anpassung der Phänomene an das kalkulatorische Denken stattgefunden – eine Zersetzung der Phänomene in Partikel -, d.h. es stelle sich die Frage, ob es sich z.B bei den Quarks in der Physik „tatsächlich um Teilchen der Welt oder um Symbole bzw. Zeichen des kalkulatorischen Denkens handelt. Vielleicht geht es also beim nume­rischen Denken gar nicht um Erkenntnis der Welt, sondern um eine Projektion des Zahlencodes nach außen und schließlich um ein Zurückholen des Projizierten. Die numerische Erkenntnis ist daher theoretisch äußerst problematisch.“ (Flusser in: Rötzer 1991:152). 

2.2.1. Die Erfindung der Schnellrechenmaschinen

Da das über Differentialgleichungen erlangte Wissen aufgrund der unendlichen Renumerisierungszeit  nicht in Macht umgesetzt werden konnte, wurden die Schnellrechenmaschinen erfunden. Abgesehen davon, daß die Beschleunigung der Kalkulation von Differentialgleichungen durch digitale Rechner weiterhin an der Komplexität der Grundprobleme scheiterte, also das praktische Problem des formalen Denkens ebenfalls nicht gelöst werden konnte, hatten die Schnellrechenmaschinen nach Flusser „einige nicht vorausgesehene Eigenschaften, die ohne dabei zu übertreiben, unser ganzes Menschenbild und unser Selbstverständnis verwandeln.“ (ebd. 154). Die Kunst des Rechnens erwies sich wegen der Schnelligkeit des Binärcodes als eine mechanisierbare und „des Menschen unwürdige  Arbeit“ (ebd. 154). Anstelle dessen trat das Programmieren der Maschinen. Neben dieser unvorhergesehenen Eigenschaft kam nach Flusser die Verschärfung des theore­tischen Problems des formalen Denkens hinzu, denn die Schnellrechenmaschine konnte über das Kalkulieren und Zersetzen der Phänomene hinaus diese auch wieder zusammensetzen. „Das sogenannte Leben lässt sich, um nur zwei besonders erregende Beispiele anzuführen, nicht nur in Partikel, in Gene analysieren, sondern die Gene können dank der Gentechnologie auch wieder zu neuen Informationen zusammengesetzt werden, um „künstliche Lebewesen“ zu erzeugen. Oder Computer können alternative Welten synthetisieren, die sie aus Algorithmen, also aus Symbolen des kalkulatorischen Denkens, projizieren und die ebenso konkret sein können wie die uns umgebende Umwelt.“ (ebd. 155). Somit sei Realität herstellbar, das mathematisch Gedachte auch machbar ge­worden. 

Das Erkenntnisproblem stelle sich nun völlig anders: Mit der Behebung der praktischen Probleme des formalen Denkens durch die maschinelle Rechengeschwindigkeit ging eine Zuspitzung des theoretischen Dilemmas einher, da sich mit der Synthetisierung alternativer Welten der Verdacht, die Wissenschaft projiziere den Zahlencode nur nach außen, auf alles ausdehnte. Somit seien nicht nur Naturgesetze Gleichungen, die der Natur aufgesetzt wurden; wäre nicht nur das ganze Universum eine Projektion, vielmehr sei sogar der beliebige Entwurf von Universen möglich. 

Die anfangs aufgestellte These „Entweder sind die alternativen Welten ebenso real wie die gegebene oder die gegebene ist ebenso ge­spenstisch wie die alternativen.“ (ebd. 147) erscheint nun in einem anderen Licht. Die Frage sei nun, „ob nicht überhaupt alles, einschließlich uns selbst, als digitaler Schein verstanden werden müßte.“ (ebd. 155). Somit werde der Begriff „Schein“ bedeutungslos, und was „real“ sei, relativiert. Wenn „alles als eine mehr oder weniger dichte Streuung von Punktelementen, von Bits, angesehen“ (ebd. 156) werde, sei etwas real, je dichter die Streuung sei. An anderer Stelle illustriert Flusser diese Vision folgendermaßen: „Vielleicht werden wir später Methoden finden, die die Reize genausogut komputieren wie unser Nervensystem. Dann werden wir diesen Tisch von einem Hologramm dieses Tisches nicht mehr unterscheiden können und dann wird es – pace Baudrillard – keinen Sinn mehr haben, von einem Original und einem Simulakrum zu sprechen. Vielleicht werden wir auch einmal in der Lage sein, besser als unser Zentralnervensystem zu komputieren. Dann wird das Hologramm das Original und dieser Tisch die Simulation sein.“ (Flusser 1995:170). 

„Das ist das digitale Weltbild, wie es uns von den Wissenschaften vorgeschlagen und von den Computern vor Augen geführt wird.“ (Flusser in: Rötzer 1991:156). Dies habe zur Folge, daß Theoretiker und Intellektuelle „die Codes der neuen Bewußtseinseben zu erlernen haben, wenn sie am künftigen Kulturbetrieb teilnehmen wollen. Wer die neuen Codes nicht lesen kann, ist Analphabet in einem mindestens so radikalen Sinn, wie es die der Schrift Unkundigen in der Vergangenheit waren.“ (Flusser 1995:50). Die Computercodes hätten „den Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen abgebrochen“, die neue Elite denke „in Zahlen, in Formen, in Farben, in Tönen, aber immer weniger in Worten.“ (ebd.).

2.2.2. Eine neue Anthropologie

Auf dieser Basis gelte es eine neue Anthropologie auszuarbeiten, die den Menschen als Knotenpunkt einander überschneidender zwischenmenschlicher Relationen begreift. Das Arbeiten am Computer sei die Verwirklichung von Möglichkeiten, die Realisierung virtueller Welten bedeute die Selbst-Verwirklichung. Wir seien nicht länger Subjekte in einer gegebenen objektiven Umwelt, sondern Projekte alternativer Welten. Dies sei „nicht etwa die Folge irgendeiner freien Entscheidung““ (Flusser in: Rötzer 1991:157), wir seien vielmehr dazu gezwungen. Mit der Hinfälligkeit einer Unterscheidung zwi­schen Wahrheit und Schein müssten wir auch unser Selbst als Punktkomputation ansehen. „Wir können keine Subjekte mehr sein, weil es keine Objekte mehr gibt, deren Subjekte wir sein könnten, und keinen harten Kern, der Subjekt irgendeines Objektes sein könnte.“ (ebd. 157). Somit liefere Wissenschaft auch keine „objektive Erkenntnis“, sondern Modelle zum Bearbeiten von Zusammengesetzem. „Die Welt“ ist nach Flusser ein von unseren Sinnen Zusammengesetztes, das von der Wissenschaft sodann kalkuliert werde. Nach Aufgabe des „kindliche(n) Wunsch(es) nach „objektiver Erkenntnis““ (ebd. 158) werde Erkenntnis künftig nach ästhetischen Kriterien beurteilt werden, Schönheit werde das „einzig annehmbare Wahrheitskriterium“ (ebd.) sein. Das Mißtrauen ge­genüber den alternativen Welten sei demnach ein Produkt „des alten, subjektiven, linear denkenden und geschichtlich bewußten Menschen dem Neuen gegenüber“ für den „“real“ all das ist, was kon­kret erlebt wird (aisthesai=erleben).“ (ebd. 158/159). 

Zusammengefasst stellt Flusser die These auf, daß die virtuelle Welt ebenso real sei wie die gegebene. Dies belegt er mit einem Blick in die Geschichte. Zu Beginn der Neuzeit habe sich mit der Etablierung von numerisch kodifizierten Modellen das formal-kalkulatorische gegenüber dem prozessuell-historischen Denken durchgesetzt. Das präzise formale Denken kollidierte mit der ausgedehnten Welt, bis mittels Differentialgleichungen unbegrenzte Erkenntnis möglich wurde. Praktisch habe diese formale Erkenntnis jedoch nicht in Arbeitsmodelle umgewandelt werden können, theoretisch sei das kalkulatorische Denken in den Verdacht geraten, sein Objekt selbst produziert zu haben. Die spätere Erfindung der Schnellrechenmaschine habe zwar das praktische Hindernis bewältigt, aber dadurch unerwartete Folgen gehabt: der Rechenvorgang wurde an die Maschinen delegiert und befreite die Menschen zum Programmieren. Da es möglich wurde, neben der Zersetzung der Partikel diese auch wieder zu synthetisieren, verschärfte sich nach Flusser auch das theoretische Problem, denn nun sei die ganze Welt zerleg- und wiederzusammensetzbar, Realität herstellbar geworden. Dies erfordere eine neue Anthropologie, die den Menschen als Schnittstelle sich überlappender Relationen vergegenständlicht. Der Mensch sei nicht mehr als Subjekt, sondern als Projekt alternativer Welten zu denken, er sei selbst eine Punktkomputation. Demnach müsse das Kriterium für „Reales“ künftig das der Schönheit und der Erlebnisfähigkeit sein. 

III. Interpretation und Kritik 

1. Flussers Reduktion der Geschichte auf die Effekte technologischer Entwicklung

Flusser schreibt Geschichte als Geschichte der Gedächtnisse. Ausgehend von der übergreifenden Fragestellung, zu welcher Zeit in welchen Gedächtnissen Informationen wie gespeichert werden bzw. welches Denken sich durch die jeweiligen „Gedächtnisstützen“ etablierte, entwickelt Flusser seine geschichtsphilosophische Sicht der Kommunikationsverhältnisse. Ausgehend von den unzulänglichen oralen, später materiellen Gedächtnissen betrachtet er die seiner Ansicht nach durch die Erfindung des Alphabetes hervorgerufenen Veränderungen im menschlichen Denken. Die Erfindung elektronischer Gedächtnisse markiert dann einen weiteren geistigen Umbruch, der laut Flusser eine neue Anthropologie erfordert. So beschäftigt sich Flusser häufig in seinen Texten mit den Effekten, die digitale Datenprozesse auf das menschliche Bewußtsein haben. Er leitet also aus der Entwicklung der Gedächtnisse bzw. Informationsspeicher ein bestimmtes Denken ab. 

Hier setzt meine Kritik an Flussers technikdeterministischer Sichtweise der Geschichte an. 

Flusser schreibt Medien- als Apparategeschichte. Erst wird eine Maschine erfunden, dann verändert sie das Denken. Flusser begreift die Technologien der Neuen Medien als Subjekt, als Verursacher einer kulturellen Revolution, wenn er behauptet, die Neuen Medien erzeugten  eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Unter dieser Perspektive erscheint Technologie als Motor der Geschichte und die „Gesellschaft selbst wird in diesem Bild zur von den Technologien ergriffenen Natur.“ (Susanne Schultz in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:81). (Auf die  Kritik seines Naturverständnisses gehe ich später genauer ein). Damit reproduziert Flusser nach Mark Terkessidis genau das, was er vorgibt, zu kritisieren. Anhand der häufig aufgestellten These, die neuen Medien führten zum Verschwinden der Schrift und des mit der alphabetischen Ordnung verknüpften linearen Denkens lässt sich laut Terkessidis ein medientheoretischer Selbstwiderspruch verdeutlichen. Die medientheo­retische Annahme, die Einführung eines neuen Mediums ersetze das vorhergehende, ist nach Terkessidis selbst Ausdruck des kritisierten linearen Fortschrittsverständnisses (vgl. Terkessidis in: Symptome1993:41). Damit fällt Flussers Medientheorie also hinter das Kritisierte zurück, erfüllt die selbst ge­setzte Prämisse nicht, das lineare Denken abzulösen. Wenn Flusser also Geschichte als Geschichte der Bilder (bzw. hier der Gedächtnisse) denkt, bemüht er selbst nochmal das Zweckdenken, das er kurz zuvor als „ty­pisch vortelematisch“ denunziert hatte. 

Mit Terkessidis ist an Flusser auch zu kritisieren,  daß die Erfindung neuartiger technischer Apparaturen als von außen hereinbrechendes, naturgegebenes Ereignis gedacht wird, anstatt in ihr eine Reaktion auf die sozialen Umstände zu erkennen (vgl. Terkessidis Richartz rezipierend in: Symptome 1993:41). Flusser erwähnt zwar „die revolutionären Handwerker der Frührenaissance“ (Flusser in: Rötzer 1991:148), die sich gegen die bischöflich fixierten Preise gewandt hätten und das „Modell“ etabliert hätten. Dies ist das einzige Auftreten einer aktiven sozialen Gruppe in seiner Geschichtsbetrachtung, die jedoch wie eine Nebensächlichkeit erscheint. In den Hauptlinien erscheint Geschichte bei Flusser als ein von technologischen Neuerungen initiierter Prozess, in dem Menschen kaum eine Rolle spielen, es sei denn als (männliche) Programmierer. Katja Diefenbach schreibt dazu, zumindest die gesamte bundesrepublikanische postmoderne Medientheorie kranke an der „fetischistischen Überbewertung des technischen Objekts. Sie ist augenscheinlich auf der Analyseebene von McLuhan stehengeblieben, über die Baudrillard schon 1972 schrieb, daß sie empiristisch und mystisch sei. Die Fixierung auf die technologische Struktur stellt zwar schon in Rechnung, daß soziale Kontrolle heute abstrakt, anonym und technologisch unterstützt ist, aber sie bleibt technologischer Idealismus, solange sie Technologie nicht als Form einer fortgeschrittenen Zwangsvergesellschaftung erkennt.“(Diefenbach in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:255/256). Diese Diagnose trifft meiner Meinung nach auch auf Flussers Thesen zu.  

2. Der fehlende Bezug zu sozialen Kategorien

Wie bereits erwähnt, richtet Flussers Medientheorie ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die neuen techno­logischen Medien und ihre Attraktionen, reduziert also Geschichte auf die Effekte technologischer Entwicklung. Dies erklärt, warum die Suche nach einer Bezugnahme Flussers auf soziale Kategorien wie Geschlecht, Ethnie und Klasse vergeblich bleibt. (vgl. Mueller in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:221). Seine Medientheorie krankt sozusagen an „Betriebsblindheit“. Der Medientheoretiker Norbert Bolz formuliert selbst: „Meines Erachtens ist der blinde Fleck der Medientheorie die „Gesellschaft“ (…) „(Bolz in: Symptome 1993:32). Somit ist es wenig verwunderlich, wenn in Flussers Texten Aussagen zu finden sind, wie: „Der „digitale Schein“ ist das Licht, das für uns die Nacht der gähnenden Leere um uns herum und in uns erleuchtet. Wir selbst sind dann die Scheinwerfer, die die alternativen Welten gegen das Nichts und in das Nichts hinein entwerfen“ (Flusser in: Rötzer 1991:159). Neben der religiösen Dimension dieses Bildes, die gesondert zu analysieren wäre, lässt sich mit der feministischen Medientheoretikerin Roswitha Mueller die Beschreibung folgendermaßen kritisieren: „Das ´Fiat Lux´, welches in der patriarchalen Mythologie feierlich die Erschaffung der Welt einleitet, wird hier im Bild zahlloser Computerprogrammierer, die als prothetische Götter das Nichts mit ihren Projektionen und Phantasiewelten füllen, zur apokalyptischen Parodie.“ Offenkundig ist „der technologische Apparat mit maskuliner Begrifflichkeit bezeichnet“ (Mueller in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:223). Dies ist kein Zufall: Eine die vergeschlechtlichten, ethnifizierten und klassenabhängigen Macht- und Produktionsverhältnisse miteinbeziehende Sichtweise lässt Flusser völlig vermissen. Flussers Gedanken zu Medien zirkulieren demnach innerhalb eines geschlossenen Kreislaufes (siehe Eingangszitat von Brecht) und lassen theoretische Hinzuziehungen aus den Sozialwissenschaften vermissen. 

3. Am Ende der freien Entscheidung

Auch wenn Flusser es nicht so zugespitzt formuliert, wie der Medientheoretiker Norbert Bolz, der postuliert: „Gadgeteering, die Synergie von Mensch und Maschine, bringt die Befreiung von der philosophischen Zumutung der Freiheit“ (Bolz 1993:116), so denkt er ebenfalls Freiheit nur innerhalb des Apparatekontextes:““Der Apparat ist das Ziel der Geschichte.“ Wir müssen mit ihm leben, ob wir wollen oder nicht. Entweder er überlebt – oder wir!“ (Gottfried Jäger in: Flusser 1995:224). Damit erklärt er erstens Widerstand gegen die Expansion der Computertechnologie von vornherein für sinnlos, z.B. wenn er schreibt, wir seien dazu gezwungen, uns als „Punktkomputationen“, als „Projekte alternativer Welten“ zu begreifen, und dies sei nicht Gegenstand einer „freien Entscheidung“ (vgl. Flusser in: Rötzer 1991:157). Dieser Zwang gehe von der Praxis mit elektronischen Gedächtnissen aus (vgl. Flusser  in: ars electronica 1989:53). Zweitens denkt er gesellschaftliche Veränderung reduktionistisch als auf Computer übertragbaren Prozess. In die konkreten Lebensumstände eingreifendes menschliches Handeln reduziert er damit auf die Programmierung von Apparaten, welche nun die eigentliche „Weltveränderung“  (vgl. Flusser 1995:18) vornehmen sollen. „Damit wird ein Technologiebegriff zugrunde gelegt, der sich als Motor, nicht aber als Erfüllungsgehilfe seiner gesellschaftsformabhängigen (Neu?-)Konstruktion begreift. Der Verdacht scheint berechtigt, daß das Wissen um die Konstruiertheit von Raum, Zeit, Körper etc. in bezug auf die „neuen Kommunikations- und Informationstechnologien“ in einen metaphorischen Sinn umgesetzt wird, dessen Grundlage und Perspektive das unhintergehbare Schicksal technologisch determinierter „Subjekte“ ist.“ (Buchmann in: Babias 1995:85). Neben dem sich emanzipierenden Subjekt zerlegt Flusser den Gedanken an Technikfolgenabschätzung bereits im Ansatz. Flusser, dem es meist nur noch um die „Verwirklichung von Möglichkeiten“ geht, muß gerade bei Risikotechnologien wie der Gentechnologie die alte Frage gestellt werden dürfen, ob alles Mögliche auch gemacht werden soll. Ist es wünschenswert, daß jede wissenschaftlich-technisch denkbare „Möglichkeit“ in die Wirklichkeit gehoben wird?

Abgesehen davon ist es verwunderlich, wenn Flusser erst vor der Dominanz der digitalen Elite über die den binären Strukturen nicht mächtige Mehrheit der Gesellschaft warnt und im selben Atemzug demokratische Entscheidungsprozesse ad absurdum führt, indem er in Bezug zu den „alternativen Welten“ deren „alternativlose Notwendigkeit“ postuliert, bzw. sie nicht als Verhandlungsgegenstand oder umkämpftes Terrain akzeptiert.

4. Die Affirmation der Gentechnologie

Flusser stimmt den „Generalbaß der Hoffnung an, einer Hoffnung, die im unerschütterlichen Glauben an das jeden Sachzwang transzendierende Menschenmögliche fundiert ist.“ (Felix Philipp Ingold in: Flusser 1995:219). Dies trifft nicht nur auf seine Überlegungen auf medientheoretischem Feld zu. Denn seine technikoptimistische Sichtweise führt ihn regelmäßig zu der begeisterten Erwähnung der vielfältigen Möglichkeiten der Gentechnologie. So beschreibt er das „fehlerhafte Kopierverfahren“ in der Evolution als „gegenwärtig interessant werdendes Faktum. Die genetische Technik kann als der Versuch angesehen werden, erworbene Informationen in der Biomasse zu speichern. Aus der Biomasse ein kulturelles Gedächtnis zu machen. Falls man diese Technik als eine Kunstform ansieht (und die von ihr hergestellten Chimären als Kunstwerke), dann müssen die künftigen Künstler mit der Tatsache rechnen, daß das Gedächtnis der Biomasse Fehler begeht, daß man ihr nicht vertrauen darf.“ (Flusser in: ars electronica 1989:42/43). Für Buchmann ist die Gentechnologie eine Form der „industriell dienst- und ausbeutbare(n) Aneignung von „Leben““ und sie fragt sich, warum Flusser „die Legitimation für eine staatlich unterstützte biomedizinische Industrie nach(reicht), der es um die Reinerhaltung und Verbesserung des genetischen Erbguts geht?“ Vermutlich sei es die „sachliche Nähe zum eigenen Absatzmarkt“, die Flusser zur Ästhetisierung der Gentechnologie motiviere (alle Zitate: Buchmann in: Babias 1995:89).

Ein weiteres, bereits im ersten Kapitel angeführtes Zitat repräsentiert Flussers technokratischen Machbarkeitswahn sehr deutlich: „Das sogenannnte Leben lässt sich, um nur zwei besonders erregende Beispiele anzuführen, nicht nur in Partikel, in Gene analysieren, sondern die Gene können dank der Gentechnologie auch wieder zu neuen Informationen zusammengesetzt werden, um „künstliche Lebewesen“ zu erzeugen. Oder Computer können alternative Welten synthetisieren, die sie aus Algorithmen, also aus Symbolen des kalkulatorischen Denkens, projizieren und die ebenso konkret sein können wie die uns umgebende Umwelt. In diesen projizierten Welten ist alles, das mathematisch denkbar, auch tatsächlich machbar, selbst das, was in der Umwelt „unmöglich“ ist wie vierdimensionale Körper oder Mandelbrotmännchen.“ (Flusser in: Rötzer 1991:154/155). Interessant erscheint mir hierbei auch die wechselseitige Bedingtheit von Computer- und Gentechnologie. Die Sequenzierung der Genabschnitte erfordert extrem hohe Rechenleistungen, wie sie nur von Computern bewältigt werden können. Das Prinzip des Computers, die Zerleg- und Synthetisierbarkeit der Welt in Bits; in den binären Code, schlägt sich konsequent weitergedacht in dem Menschenbild der Gentechnik nieder. 

5. Technologie- und Naturbegriff

Flusser stützt sich in seinen Texten auf neuere Erkenntnisse der Neurophysiologie, auf die Thermodynamik und auf die Praxis mit elektronischen Geräten. Dieser eingeschränkte Referenzrahmen könnte seine bereits erwähnte Blindheit gegenüber sozialen Kategorien und seine affirmative Haltung gegenüber der Gentechnologie erklären. Für Flusser besteht der Mensch hauptsächlich aus einem Reize komputierenden Nervensystem (vgl. z.B. Flusser in: ars electronica 1989:44). Katja Diefenbachs Kritik an Norbert Bolz´ Vorstellung des Zentralen Nervensystems lassen sich auch gegen Flusser anführen, wenn sie schreibt, das Subjekt werde hier rückwirkend biologistisch rekonstruiert als die Funktion seines Zentralnervensystems. „Es durfte verschwinden, weil es nur eine auf sein ZNS reduzierbare befehlsverarbeitende Instanz ist.“ (Diefenbach in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:255). Denn auch Flusser meint zumindest, „vielleicht werden wir später Methoden finden, die die Reize genausogut komputieren wie unser Nervensystem.“ (Flusser 1995:170). Darüber hinausgehend kritisiert die feministische Medientheoretikerin Mueller dieses gängige Intelligenzmodell als reduktionistisch und schreibt: „Dieses Herunterskalieren menschlichen Vermögens auf funktionalistische Proportionen ist der entscheidende Punkt in der Debatte über neuere Entwicklungen in der Medientheorie. Worum es geht, ist die Verabschiedung eines Typs von Intelligenz, der zur Reflexion fähig ist, zugunsten formaler Logik. Während Reflektion in der Lage ist, die Genese und die zukünftigen Auswirkungen von gegebenen Phänomenen in Rechnung zu stellen und so von ihnen zu abstrahieren, ereignet sich formale Logik in einem historischen, sozialen und psychologischen Vakuum.“ (Mueller in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:228). 

Terkessidis bezeichnet Flussers im ersten Kapitel dargestellte Behauptung von der Entlastung des menschlichen Gehirns durch elektronische Gedächtnisse als „Kästchenpsychologie“, die das menschliche Gehirn als Speicher auf­fasse. Auch Sabeth Buchmann geht auf diese Vorstellung ein: „Flusser analogisiert das informations­theoretische Modell des elektronischen Gedächtnisses mit der angenommenen Funktionsweise des (genetischen) Gedächtnisses.“ (Buchmann in: Babias 1995:88). Diese, von ihr als „Gen-Naturalismus“ be­zeichnete Verfahrensweise Flussers konfrontiert Buchmann mit dem Materialitäts-Verständnis der US-amerikanischen Feministin Judith Butler. Der Vorstellung eines „elektronischen Gedächtnisses“ gehe die Annahme voraus, „daß das genetische Gedächtnis in einer bestimmten Weise konstruiert ist“ (ebd.). Buchmann kritisiert mit Butler das medientheoretische Postulat einer vordiskursiven Materialität (des Gehirns) und hinterfragt das implizit greifende Naturverständnis. Sie kritisiert, daß der technologische Anspruch, „“Naturidentität“ nachzustellen“ (ebd. 87), in dem Ziel gipfelt, eine bestimmte Konstruktion von Natur technologisch zu fixieren. Flusser praktiziere eine determini­stische Subjekt-/Körperdiskursbildung, die z.B. „Gehirn“ als sprachliches Abbild einer vermeint­lichen Realität behaupte. Die behauptete „Natur“ sei jedoch ein Effekt ihrer kulturellen Festlegung und nicht als vorgängiges apriori voraussetzbar. „Was jeweils als Natur gilt, ist bereits Effekt der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Flyer zu NATURE™, Messe gegen Gen- und Biotechnologie in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996: 72). Technologie als Kopie natürlicher Vorlagen zu den­ken, impliziere Natur als stabile Kategorie, „die durch Technologie nicht interpretiert und mit Bedeutung versehen, sondern 1:1 simuliert wird.“ (Buchmann in: Babias 1995:97). 

Ich teile die Annahme, „daß Technologie sich ihren Gegenbegriff angeeignet hat (Natur).“ (Projekt GAME GRRRL in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:32). „Natur“ ist demnach kein Bereich von Nicht-Technologie, denn eine von Machtverhältnissen unberührte Natur gibt es nicht. „Sie funktioniert als ideologisches Instrument, das einerseits Technologie als ihr Gegenstück zum einzigen Paradigma unserer Kultur aufwertet (nur sie wird unsere Zukunft bestimmen) und andererseits eine konservative Wirkung hat (die ´natürliche´ Rolle der Frau etc.).“ (Geene/Lorenz in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:15). 

6. Mögliche Kriterien für ein kritisches Technologieverständnis

Mein erster Gedanke war, die Perspektive umzukehren: Nicht aus der Technologie das Denken ableiten, sondern das der Technologie vorgängige Denksystem untersuchen. Wer nun aber Technologie ausschließlich als gesellschaftliches, kulturelles und historisches Produkt annimmt, läuft dabei wiederum Gefahr, in einen platten Sozialdeterminismus zu verfallen, warnt Sabeth Buchmann. Sie schreibt, es scheine nicht so leicht möglich, gegenüber „Technologie“ ein kritisches „Außen“ zu konzeptualisieren. „Denn in dem gleichen Maße, wie es die Vorstellung zu verwerfen gilt, „Technologie“ verfüge über ein transhistorisches und transkulturelles Wesen, genauso gilt es die Vorstellung zu verwerfen, „Gesellschaft“, „Geschichte“, „Kultur“ und „Natur“ könnten jenseits ihrer technologischen Vermittlung gedacht werden.“ (Buchmann in: Babias 1995:81). Eine feministische Kritik postmoderner Medientheorien dürfe sich also nicht auf die Seite des einen oder anderen Determinismus schlagen, da sie damit den ideologischen Boden verfestige, den sie sich zu untergraben vorgenommen hatte. 

Sie geht auf ein weiteres Problem der Technologiekritik ein: Die oft behauptete Neutralität einer für sich betrachtetenTechnik. Die Behauptung, „“Technologie“ an sich wäre weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, sie erhielte ihre Bedeutung nur über ihren je spezifischen Gebrauch, ist eine erste Verkennung der Tatsache, daß „Gebrauch“ immer schon Ausdruck der Annahme ist, daß ihm eine unausweichliche Notwendigkeit zugrunde liegt. In Entsprechung hierzu wäre zu fragen, unter welchen Umständen mit Hilfe welcher Diskurse aus welchen Gründen und zu welchem Zweck der Gebrauch der „neuen Technologien“ als Notwendigkeit vorausgesetzt wird. Folgte man der Logik populistischer Medientheorien und Technologiephilosophien, gäbe es aufgrund und trotz herrschender politischer Verhältnisse keine Option auf den Verzicht bestimmter Technologien – etwas, was auch ihre politisch alternativlose Notwendigkeit in Frage stellte.“ (Buchmann in: Babias 1995:82/83). Dieses Denken ist, wie ich im dritten Abschnitt des zweiten Kapitels dargelegt habe, auch bei Flusser stark ausgeprägt.

Sich wie Flusser euphorisierend auf die „Möglichkeiten“ digitaler Technologien zu beziehen, blendet den Kontext ökonomischer, politischer und ideologischer Prämissen aus, die in die jeweiligen Technologien eingeschrieben sind. Ich halte eine gesellschaftstheoretische Einordnung der Technologieentwicklung für notwendig, um dem Verständnis digitaler Überformung der Lebenswirklichkeit näher zu kommen.  „Die gesellschaftliche Rolle von Technologie kann nicht nur aus der Entwicklung neuer Produktionsmittel und -verfahren abgeleitet werden, denn das führt leicht zu ohnmächtigem Technikdeterminismus (…).“ Dabei werden Forschung und Industrie als aktiv wahrgenommen, der „Anteil, den kulturelle Prozesse an der Entstehung, Akzeptanz und Vorwegnahme von Technologie haben“ (Flyer zu NATURE™, Messe gegen Gen- und Biotechnologie in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996: 73), wird jedoch unterschlagen. Notwendig wäre meines Erachtens zudem die Befragung und Kritik der Bedingungen, die zur Entwicklung einer bestimmten Technologie führen. Neben der Benennung historischer, sozialer und ökonomischer Gründe, die zur Erfindung dieser Technologie geführt haben (vgl. Lorenz in: BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:36), gehört dazu die „Politisierung von Technologie, indem technologische Konzepte und Bilder auf ihre Abstraktionen, Reduktionen und Wertorientierungen hin untersucht werden (…).“ (Projekt GAME GRRRL, BüroBert.minimal club.Susanne Schultz 1996:32). Notwendig wäre also ein Begriff von Technologie, der „in den „neuen Technologien“ eine spezifischen gesellschaftlichen Bedürfnissen angepaßte Ideologie- und Produktionsform“ (Buchmann in: Babias 1995:91) sieht.  

IV. Zusammenfassung und Schluß

Vor dem Hintergrund der Ausgangsfragestellung kann nun eine Bewertung der modischen Prognose, gegenwärtig vollziehe sich ein kultureller Umbruch in den gesellschaftlichen Organisationsprinzipien, vorgenommen werden. Anhand der Theorie des Medienphilosophen Vilém Flusser habe ich versucht, die zentralen, sich durch die Medientheorien zumindest der optimistischen Denker ziehenden Grundannahmen darzustellen und mit einer Kritik zu konfrontieren. 

Zusammengefasst lassen sich diese Grundannahmen und Auslassungen an Vilém Flussers Geschichts-, Technologie-, Natur- und Gesellschaftsverständnis verdeutlichen und mit seiner Haltung zur Gentechnologie illustrieren. Flusser konzeptualisiert Geschichte als von Technologien vorangetriebenen Prozess. In seiner Betrachtung der historisch variierenden Gedächtnisstützen prägt die Linearität des Alphabetes das mit ihm verknüpfte historisch-prozessuelle Denken, zudem wird die informationsverarbeitende Fähigkeit der Bibliothek sakralisiert. Folglich führt die Digitalisierung und das mit ihr verbundene formal-kalkulatorische Denksystem zum Ende des Geschichtsbewußtseins und zur technologischen Herstellbarkeit von Realität. Die Unterscheidung von realer und immaterieller Wirklichkeit wird obsolet und die Ausarbeitung einer neuen Anthropologie notwendig, die sich vom verdinglichenden Begriff des Subjekts trennt und den Menschen als informationsdurchströmtes Relationsfeld, als projektive Punktkomputation alternativer Welten begreift. 

Die Einwände konzentrieren sich auf Flussers technikdeterministische Sichtweise der Geschichte, also auf seine Technologie subjektivierende und verabsolutierende Behauptung, Geschichte sei ein von technologischen Neuerungen erzeugter Prozess. Die Überbewertung der Apparate korreliert mit einem fehlenden Bezug auf soziale Kategorien wie race, class und gender. Flusser stellt die Technologieentwicklung nicht in einen gesellschaftstheoretischen Zusammenhang, da dies sein gesamtes Modell in Frage stellen würde. Ihm fehlt also eine genauere Beschreibung der Bedingungen, unter denen eine bestimmte Technologie entwickelt wird. Dazu gehört neben der Berücksichtigung historischer, sozialer und ökonomischer Ursachen die Befragung der in die Technologien eingeschriebenen Reduktionen, Abstraktionen, Wertorientierungen und Prämissen. Einen an die Kritik seines Technologiebegriffes anschließbaren Kritikpunkt stellt Flussers ahistorisches Naturverständnis dar. Abgesehen von seiner den Menschen als Funktion seines Nervensystems behauptenden, biologistisch-reduktionistischen Wahrnehmung bietet seine informationstheoretische Analogisierung von genetischem und elektronischem Gedächtnis eine Folie für die Kritik seines vordiskursiven Materialitätsverständnisses. Die Kategorie Natur ist inhaltlich nicht als stabil denkbar, da sie durch ihren Gegenbegriff Technologie interpretiert und bedeutet wird und ihre Füllung das Resultat einer gesellschaftlich-kulturellen Festlegung ist . Schlußendlich kulminiert Flussers technikoptimistische Haltung in der erregten Schilderung der Synthetisierungsfähigkeiten von Gen- und Computertechnologie, die nun alles Denkbare auch Machbar werden liessen. Die Aufgabe, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken, weist er gänzlich den Apparaten zu, menschliches Vermögen beschränkt sich auf deren Programmierung. Eine Entscheidung darüber, ob diese Entwicklung überhaupt wünschenswert bzw. gewollt ist, wird den technologisch determinierten Subjekten entzogen. 

Dies sind die wesentlichen Gesichtspunkte, die mich zu der Schlußfolgerung führen, die medientheoretische Prognose einer grundsätzlichen Umwälzung des Denkens, der Geschichte und der Raum- und Zeitkoordinaten durch die Neuen Medien sei oberflächlich und vorschnell. Zu ergänzen wäre eine genaue Untersuchung des Realitätsbegriffes, um Flussers These, die Unterscheidung zwischen Realem und Imaginärem sei hinfällig, zu überprüfen. Offen bleibt außerdem, welche Auswirkungen die durchscheinenden religiösen Vorstellungen auf seine Theorie haben. Auch die eine gewichtige Rolle einnehmende Rede von der Entropie, dem Zerfall, dem Vergessen und die damit einhergehenden fatalistischen Bemerkungen Flussers mußten hier unbefragt bleiben.

Als Aufgabe bleibt weiterhin, eine jenseits von Technologie-Dämonisierung angesiedelte Kritik der Neuen Medien und der mit ihnen verknüpften sozialutopischen Vorstellungen zu leisten, die über konservativen Kulturpessimismus und illusorischen Internet-Demokratismus hinaus geht. Diese Kritik kann sich heute nicht mehr einfach mit dem Anschluß an Brechts Forderung nach der Verwandlung des Rundfunks vom Distributions- zum Kommunikationsapparat begnügen, wie es in den siebziger Jahren mit der Forderung nach einem „Rückkanal“ für das Fernsehen geschah. Auch die alte Hacker-Forderung nach freier Zugänglichkeit zu allen Informationen genügt nicht mehr. Der „kreative User“, der die Technologie gegen den Strich bürstet, die Geräte auch gegen die Gebrauchsanweisung nutzen kann – ist er Garant eines emanzipatorischen Umgangs mit den neuen Technologien?

V. Bibliographie

– ars electronica (Hg.) (1989): Philosophien der neuen Technologien (Berlin)

– Bolz, Norbert (1993):  Am Ende der Gutenberg Galaxis: die neuen Kommunikationsverhältnisse (München) 

– Babias, Marius (Hg.) (1995): Im Zentrum der Peripherie, Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren (Dresden/Basel)

– BüroBert, minimal club, Susanne Schultz (Hg.), (1996): geld.beat.synthetik, Abwerten bio/technologischer Annahmen (Berlin)

– Flusser, Vilém (1995): Die Revolution der Bilder, Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design

– Jung, Werner (1995): Von der Mimesis zur Simulation, Eine Einführung in die Geschichte der Ästhetik (Hamburg)

– Kuhlmann, Andreas (Hg.) (1994): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne (Frankfurt am Main)

– Rötzer, Florian (Hg.) (1991): Digitaler Schein, Ästhetik der elektronischen Medien (Frankfurt am Main)

– Symptome, Zeitschrift für epistemologische Baustellen, Sommer 1993, Heft Nr. 11, (Essen) 

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